Gesammelte Werke
abergläubisch; der Mensch in ihm, der abends Tonka abholte, wurde es, während der andere wie ein Gelehrter arbeitete. Er besaß zwei Ringe, die er aber nur abwechselnd trug. Beide waren kostbar, aber der eine war edel und alt, während der andere ein Geschenk seiner Eltern war, das er nie sehr in Ehren gehalten hatte. Da bemerkte er, daß er an den Tagen, wo er den neuen Ring trug, der nichts als ein teurer Allerweltsring war, vor neuen Verschlimmerungen seiner Lage eher bewahrt blieb als an den Tagen, wo er den edlen trug, und von da an traute er sich nicht mehr, diesen an den Finger zu stecken, sondern trug den andern wie ein auferlegtes Joch. Auch als er sich eines Tages zufällig nicht rasierte, hatte er Glück; als er es am nächsten Tage tat, obgleich ihn die Beobachtung gewarnt hatte, strafte ein neues seiner kleinen niedrigen Unglücke – die nur in seiner Lage Unglück statt Lächerlichkeit waren – den Verstoß: von da an konnte er sich nicht entschließen, seinem Bart etwas zu tun; er wuchs, wurde bloß sorgfältig spitz geschnitten, und er trug ihn während aller traurigen Wochen, die noch kamen. Dieser Bart entstellte ihn, aber er war wie Tonka: je häßlicher, desto ängstlicher behütet. Vielleicht wurde sein Gefühl für sie desto zärtlicher, je tiefer es enttäuscht war, denn es war innerlich ein so guter Bart, weil er äußerlich so häßlich war. Tonka mochte den Bart nicht und verstand ihn nicht. Er hätte ohne sie gar nicht gewußt, wie häßlich dieser Bart war, denn man weiß von sich so wenig, wenn man nicht andere hat, in denen man sich spiegelt. Und da man nichts weiß, wünschte er Tonka vielleicht zuweilen tot, damit dieses unerträgliche Leben ein Ende finde, und mochte den Bart bloß deshalb, weil er alles verstellte und verbarg.
IX
Zuweilen überfiel er sie noch immer aus dem Hinterhalt mit einer geheuchelt arglosen Frage, auf deren glattem Klang ihre Vorsicht ausgleiten sollte. Häufiger aber überfiel es ihn. «Es ist ja ganz unsinnig, die Tatsache zu leugnen, also sag mir nur, damit wieder Aufrichtigkeit zwischen uns ist, wie konnte es geschehen?» fragte er einflüsternd. Aber sie hatte immer die eine Antwort: schick mich fort, wenn du mir nicht glauben willst; und das war gewiß ein Mißbrauch ihrer Schutzlosigkeit, aber es war ebenso gewiß auch die allerwahrste Antwort, denn mit medizinischen und philosophischen Gründen konnte sie sich nicht verteidigen und vermochte für die Wahrheit ihrer Worte nur mit der Wahrheit ihrer Person einzustehn.
Dann begleitete er sie bei ihren Ausgängen, weil er sich nicht traute, sie allein zu lassen; er fürchtete nicht etwas Bestimmtes, aber es beunruhigte ihn, sie allein in den weiten, fremden Straßen zu wissen. Und wenn er sie abends irgendwo abholte, und sie gingen, und im Halbdunkel begegnete ihnen ein Mann, der nicht grüßte, so kam es vor, daß er bekannt erschien, und Tonka wurde scheinbar rot, und mit einemmal war die Erinnerung da, daß sie sich früher einmal bei irgendeiner Gelegenheit in seiner Gesellschaft befunden hatten, und zugleich war auch – mit der gleichen Gewißheit, wie sie Tonkas unschuldigem Gesicht zukam – die Überzeugung da: dieser war es! Einmal schien es ein wohlhabender Volontär aus einem Exportgeschäft zu sein, den sie flüchtig gekannt hatten, und ein andermal ein Tenor aus einem Chantant, der die Stimme verloren hatte und bei der gleichen Wirtin wohnte wie Tonka. Stets waren es solche lächerlich ferne Gestalten, die wie ein verschnürtes schmutziges Paket in die Erinnerung geworfen wurden, das die Wahrheit enthielt und beim ersten Versuch es aufzuschnüren nichts als den Staubhaufen quälender Ohnmacht hinterließ.
Diese Gewißheiten über Tonkas Untreue hatten etwas von Träumen. Tonka ertrug sie mit ihrer rührenden, wortlos zärtlichen Demut: aber was konnte diese nicht alles bedeuten!? Und wenn man dann alle Erinnerungen durchging, wie waren alle zweideutig! Die einfache Art zum Beispiel, wie sie ihm zugelaufen war, konnte Gleichgültigkeit sein oder Sicherheit des Herzens. Wie sie ihm diente, war Trägheit oder Seligkeit. War sie anhänglich wie ein Hund, so mochte sie auch jedem Herrn folgen wie ein Hund! Das hatte er doch gleich in jener ersten Nacht empfunden, und war es auch ihre erste Nacht? Er hatte nur auf die seelischen Zeichen geachtet und keinesfalls waren die körperlichen sehr merklich gewesen. Jetzt war es zu spät. Ihr Schweigen war jetzt über alles gebreitet und vermochte
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