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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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seiner Lage, die er durch eine Anstrengung unterbrechen konnte. Er tat es aber lange nicht. Denn während er sich unter verständigen Menschen und solchen des wirkenden Lebens eigentlich immer nur wie ein Gast gefühlt hatte, zumindest mit einem Teil seines Wesens, und so fremd und so sinnlos, wie es ein Gedicht wäre, das er inmitten der Generalversammlung einer Aktiengesellschaft plötzlich vorzusagen begänne, fühlte er in diesem Nichts von Gewißheit eine erhöhte Sicherheit und lebte gerade mit diesem Teil seines Wesens zwischen den Gebilden des Abersinns nicht in der Luft, sondern so sicher wie auf festem Boden. Es ist ja in Wahrheit Glück nichts Vernünftiges, das an einem bestimmten Tun oder dem Besitz gewisser Dinge ein für allemal hinge, sondern weit eher eine Stimmung der Nerven, durch die alles zum Glück wird oder nichts: soweit hatte Clarisse schon recht. (Tatsächlich unterliegen wir in gleichgültigen Dingen sehr häufig der Ansteckung zum Beispiel Manieren, Sprechgewohnheiten, Gähnen. – Anziehung gerade schlechter Gewohnheiten? Wahrscheinlich Umweg über Angst wie beim Tic.) Und die Schönheit, Güte, Genienhaftigkeit einer Frau, das Feuer, das sie entzündet und unterhält, ist durch keinen richterlichen Wahrspruch festzustellen, sondern es ist ein Delirium zu zweien. (Eventuell: Treu und Glauben, überzeugen, überreden, annehmen, für wahr halten und so weiter. – Das Leben ruht auf Akten, die Wahnsinn wären, wenn sie sich nicht bewähren würden. – Wenn aber Clarisse sich bewährt? Solches (funktionale) Denken lag Ulrich nahe.) Man dürfte behaupten, sagte sich Ulrich, daß unser ganzes Sein, – welches wir im Grund nicht begründen können, sondern als Gott wohlgefällig im ganzen hinnehmen, während wir auf dieser Voraussetzung die Einzelheiten sehr wohl abzuleiten vermögen — nichts als ein Delirium vieler sei, aber wenn Ordnung Vernunft ist, so ist überhaupt schon jede einfache Tatsache der Keim eines Wahnsinns, wenn wir sie außer aller Ordnung betrachten. Denn was haben Tatsachen mit unserem Geist zu tun?! (Man vergegenwärtige sich unsere Situation. Äonen von Jahren rasen hier die gleiche Bahn um die Sonne. Über ein Kind, das eine Viertelstunde lang um seinen Sessel herumläuft, schütteln wir schon den Kopf.) Er richtet sich nach ihnen, aber sie, sie stehen da, niemandem verantwortlich wie Berggipfel oder Wolken oder die Nase im Gesicht eines Menschen; die im Gesicht der schönen Diotima hätte man zuweilen mit zwei Fingern quetschen mögen, die Clarissens schnupperte gespannt gleich der eines Hühnerhunds und vermochte die ganze Aufregung des Unsichtbaren mitzuteilen. 626
    Er konnte aber der Ordnung Clarissens bald nicht mehr folgen. Man ritzt an der Stelle, wo man sich gerade befindet, ein Zeichen in einen Stein: daß dies ebenso Kunst ist wie die größte, war nachzufühlen. Und Clarisse wollte Ulrich nicht besitzen, sondern – jedesmal in einem neuen Sprung – mit ihm leben. «Ich ‹nehme› nicht wahr,» sagte sie «sondern ich nehme fruchtbar.» Ihre Gedanken schillerten, die Dinge schillerten. Man sammelt nicht seine Einfalle, um ein Ich daraus zu bilden wie einen kalten Schneemann, wenn man in immer neuen Katastrophen wächst wie sie, ihre Gedanken wuchsen «im Freien»; man schwächt sich dadurch, daß man alles zerstreut, also man regt sich zu einem unheimlichen Wachstum an. Clarisse begann ihr Leben in Gedichten auszudrücken; Ulrich fand es auf der Insel der Gesunden ganz natürlich. Aber in unseren Gedichten ist zuviel starre Vernunft, die Worte sind ausgebrannte Begriffe, die Syntax reicht Stock und Seil wie für Blinde, der Sinn kommt vom Boden nicht los, den alle festgetreten haben, die erweckte Seele kann in solchen Eisenkleidern nicht wandeln. Clarisse fand heraus, daß man Worte wählen müsse, welche keine Begriffe sind; da es die aber nicht zu geben schien, wählte sie dafür das Wortpaar. Wenn sie «Ich» sagte: niemals war dieses Wort fähig so lotrecht aufzuschießen, wie sie es fühlte, aber Ichrot ist noch von nichts festgehalten und flog empor. Ebenso vorteilhaft ist es, die Worte aus den grammatikalischen Bindungen zu befreien, die ganz verarmt sind. Clarisse legte zum Beispiel Ulrich drei Worte vor und bat ihn, sie zu lesen, in welcher Reihenfolge er wolle. War es Gott – rot – und fährt, so las er Gott fährt rot oder Gott, rot, fährt, das heißt sein Gehirn griff sie gleich als Satz auf oder trennte sie durch Beistriche, um zu

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