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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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der Nacht anlegen, und sie ließ nicht ab, bis er unter seiner gebräunten Haut blaß wurde. Ihre Leidenschaft für ihn und überhaupt alle Gefühle, die sie äußerte, gingen nicht tief – das spürte Ulrich deutlich — aber manchmal irgendwie an Tiefe vorüber unmittelbar ins Bodenlose.
    Und auch sie traute Ulrich durchaus nicht ganz: Er verstand die Größe ihres Erlebnisses nicht völlig. Sie hatte in diesen Tagen natürlich alles durchschaut und erkannt, was ihr vorher noch verschlossen gewesen war. Sie hatte vorher unendlich Schweres erlebt, den Sturz aus der fast schon erreichten größten Höhe des Unternehmungsgeistes in tiefste Beklemmung. Es scheint, daß der Mensch aus der gewöhnlichen wirklichen Welt, wie wir alle sie kennen, durch Vorgänge verdrängt werden kann, die sich nicht in ihr ereignen, sondern überirdisch oder unterirdisch sind, und ebenso kann er durch sie ins Unermeßliche gesteigert werden. Sie beschrieb es auf der Insel Ulrich folgendermaßen: eines Tages war alles rings um Clarisse erhöht gewesen; die Farben, die Gerüche, die geraden und die krummen Linien, die Geräusche, ihre Gefühle oder Gedanken und jene, die sie in anderen Menschen erregte; was sich ereignete, mochte kausal, notwendig, mechanisch, psychologisch sein, aber es war außerdem noch von einem geheimen Antrieb bewegt; es mochte sich genau ebenso am Tag vorher ereignet haben, heute war es in einer unbeschreiblichen und glücklichen Weise anders. (Das Schmerzlichste und Düsterste wirkt nicht als Gegensatz, sondern als bedingt, als herausgefordert, als eine notwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses. – Länge, weitgespannter Rhythmus des Gedankens wird zum Bedürfnis.) «Ach,» sagte sich Clarisse sofort «ich bin vom Gesetz der Notwendigkeit, wo jedes Ding von einem anderen abhängt, befreit.» Denn die Dinge hingen von ihrem Gefühl ab. Oder vielmehr, es war da eine fortwährende Aktivität des Ich und der Dinge, die aufeinander eindrangen und einander nachgaben, als ob sie sich auf den zwei verschiedenen Seiten der gleichen elastischen Membran befänden. Clarisse entdeckte, daß es ein Schleier von Gefühl war, aus dem sie hervorging, und auf der anderen Seite die Dinge. Sie erhielt wenig später die fürchterlichste Bestätigung: sie nahm dann alles, was um sie vorging, genau so richtig wahr wie früher, aber es war völlig beziehungslos und entfremdet geworden. Ihre eigenen Gefühle kamen ihr fremd vor, als ob sie ein anderer empfände oder ob sie in der Welt umhertrieben. Es war, als ob sie und die Dinge einander schlecht angepaßt wären. Sie fand keinen Halt mehr in der Welt, nicht das notwendige Mindestmaß von Zufriedenheit und Selbstgenügsamkeit, vermochte nicht mehr durch innere Bewegungen das Gleichgewicht gegen die Geschehnisse der Welt aufrechtzuerhalten und fühlte mit unsagbarer Not, wie sie unaufhaltsam aus der Welt hinausgedrängt wurde und dem Selbstmord (oder vielleicht dem Wahnsinn) nicht mehr entrinnen konnte. Wieder war sie von der gewöhnlichen Notwendigkeit ausgenommen und einem geheimen Gesetz unterworfen; aber da entdeckte sie im letzten, gerade zur Rettung noch hinreichenden Augenblick das Gesetz, das niemand vor ihr bemerkt hatte:
    Wir – das heißt Menschen, welche nicht Clarissens Einblick haben, – bilden uns ein, daß die Welt eindeutig sei, wie immer sich die Sache mit den Dingen außen und den Vorgängen innen verhalten möge; und was wir ein Gefühl nennen, ist eine persönliche Angelegenheit, die zu unserem eigenen Vergnügen oder Unbehagen dazukommt, aber sonst nichts in der Welt ändert. Clarisse dagegen erkannte, daß die Gefühle die Welt ändern. Nicht etwa nur so, wie es rot vor den Augen wird, wenn wir in Zorn geraten – auch das übrigens; man hält es nur irrtümlich für etwas, das eine gelegentliche Ausnahme ist, ohne zu ahnen, welches tiefe und allgemeine Gesetz man berührt! – vielmehr so: Die Dinge schwimmen in Gefühl, wie die Seerosen auf dem Wasser nicht nur aus Blatt und Blüten und Weiß und Grün bestehen, sondern auch aus «sanftem Daliegen». Gewöhnlich stehen sie dabei so ruhig, daß man das Ganze nicht bemerkt; das Gefühl muß ruhig sein, damit die Welt ordentlich ist und bloß vernünftige Beziehungen in ihr herrschen. Aber angenommen zum Beispiel, daß ein Mensch eine ganz schwere und vernichtende Demütigung erleidet, an der er zugrundegehen müßte, so kommt es vor, daß sich statt dieser Scham eine überlegene Lust an der

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