Gesammelte Werke
jetzige hinein. Und daß sie gerade heute wieder an alles denken mußte, konnte durch Zufall gekommen sein oder weil sie zu ihrem Kinde fuhr oder wegen irgendeines Gleichgültigen sonst, es war aber erst am Bahnhof aufgetaucht, als sie dort – unter den vielen Menschen und von ihnen bedrückt und beunruhigt – plötzlich leise von einem Gefühl berührt wurde, das sie, wie es so halb und verschwindend vorbeitrieb, dunkel und fern und doch in fast leibhafter Gleichheit an jenen beinahe vergessenen Lebensabschnitt erinnerte.
Ihr Mann hatte keine Zeit gehabt, Claudine zur Bahn zu begleiten, sie wartete allein auf den Zug, um sie drängte und stieß sich die Menge und schob sie langsam hin und her wie eine große, schwere Woge von Spülicht. Die Gefühle, die ringsum auf den morgendlich geöffneten, bleichen Gesichtern lagen, schwammen auf ihnen durch den dunklen Raum wie Laich auf fahlen Wasserflächen. Es ekelte ihr. Sie empfand den Wunsch, was sich hier trieb und schob, mit einer nachlässigen Gebärde von ihrem Weg zu scheuchen, aber – war es die körperliche Überlegenheit um sie, was sie entsetzte, oder nur dieses trübe, gleichmäßige, gleichgültige Licht unter einem riesigen Dach von schmutzigem Glas und wirren eisernen Streben – während sie scheinbar gleichmütig und höflich unter den Menschen ging, fühlte sie, daß sie es tun mußte, und erlitt es im Innersten wie eine Demütigung. Sie suchte vergeblich in sich einen Schutz; es war, als hätte sie sich, langsam und wiegend, in dem Gedränge verloren, ihre Augen fanden sich nicht mehr zurecht, sie konnte sich auch nicht auf sich besinnen, und wenn sie sich mühte, spannte sich ein dünner weicher Kopfschmerz vor ihre Gedanken.
Sie lehnten sich hinein und suchten das Gestern zu erreichen; aber Claudine gewann davon bloß ein Bewußtsein, als trüge sie heimlich etwas Kostbares und Zartes. Und sie durfte es nicht verraten, weil die andern Menschen es nicht verstehen konnten und sie schwächer war und sich nicht zu verteidigen vermochte und sich fürchtete. Schmal und eingezogen ging sie zwischen ihnen, voll Hochmut, und zuckte zusammen, wenn ihr jemand zu nahe kam, und verbarg sich hinter einer bescheidenen Miene. Und fühlte dabei, heimlich entzückt, ihr Glück, wie es schöner wurde, wenn sie nachgab und sich dieser leise wirren Angst überließ.
Und daran erkannte sie es. Denn so war es damals; ihr kam plötzlich vor: einst, als sei sie lange anderswo und doch nie fern gewesen. Es war ein Dämmerndes um sie und Ungewisses wie das ängstliche Verbergen von Leidenschaften Kranker, ihr Tun riß sich in Stücken von ihr los und wurde von den Gedächtnissen fremder Menschen davongetragen, nichts hatte jenen Ansatz zur Frucht in ihr zurückgelassen, der eine Seele leise zu schwellen anfängt, wenn die andern glauben sie völlig entblättert zu haben und sich satt von ihr abwenden; ... und doch lag blaß bei allem, was sie litt, ein Schimmer wie von einer Krone und in dem dumpfen, summenden Weh, das ihr Leben begleitete, zitterte ein Glanz. Zuweilen war ihr dann, als brennten ihre Schmerzen wie kleine Flammen in ihr, und irgend etwas trieb sie, ruhelos neue zu entzünden; sie glaubte dabei, einen schneidenden Reif um die Stirn zu fühlen, so unsichtbar und unwirklich wie aus Traum und Glas, und manchmal war es nur ein fernes kreisendes Singen in ihrem Kopf ...
Claudine saß reglos, während der Zug mit leisem Schütteln durch die Landschaft fuhr. Ihre Mitreisenden unterhielten sich, sie hörte es nur wie ein Rauschen. Und während sie jetzt an ihren Mann dachte und ihre Gedanken von einem weichen, müden Glück umschlossen waren wie von Schneeluft, war es doch bei aller Weichheit etwas, das fast am Bewegen hinderte oder wie wenn ein genesender, an das Zimmer gewöhnter Körper die ersten Schritte im Freien tun soll, ein Glück, das still stehen macht und beinahe weh tut; ... und dahinter rief noch immer dieser unbestimmt schwankende Ton, den sie nicht fassen konnte, fern, vergessen, wie ein Kinderlied, wie ein Schmerz, wie sie, ... in weiten schwankenden Kreisen zog er ihre Gedanken nach sich und sie konnten ihm nicht ins Gesicht sehn.
Sie lehnte sich zurück und blickte zum Fenster hinaus. Es erschöpfte sie, länger daran zu denken; ihre Sinne waren ganz wach und empfindlich, aber etwas hinter den Sinnen wollte still sein, sich dehnen, die Welt über sich hingleiten lassen ... Telegraphenstangen fielen schief vorbei, die Felder mit ihren
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