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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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Wasserlilien seufzten nicht mehr – und kein Murmeln stieg empor aus ihrer Schar, noch der Schatten eines Tons aus der weiten, unendlichen Wüste. Und ich blickte auf die Schrift auf dem Felsen – und sie war verändert; und die Schrift war:
Schweigen
.
    Und meine Augen fielen auf das Antlitz des Mannes, und sein Antlitz war bleich in Entsetzen, und hastig erhob er den Kopf aus der Hand und stand auf dem Felsen und lauschte. Aber da war keine Stimme in der weiten, unendlichen Wüste, und die Schrift auf dem Felsen war:
Schweigen
. Und der Mann schauderte und wandte das Antlitz ab und entfloh ins Weite.«
    Wohl stehen in den Büchern der Magier schöne Geschichten – in den eisengebundenen, schwermütigen Büchern der Magier. In diesen, sage ich, stehen strahlende Geschichten von Himmel und Erde und machtvollem Meer – und von den Geistern, die Meer und Erde und hohe Himmel regieren. Auch in dem, was die Sibyllen erzählten, war Weisheit, und heilige, heilige Dinge standen in den vergilbten Blättern, die rund um Dodona zitterten – doch, beim Leben Allahs, die Geschichte, die der Dämon erzählte, der da an meiner Seite im Schatten des Grabes saß, halte ich für die wundersamste von allen! Und als der Dämon die Erzählung endete, fiel er zurück in die Höhlung des Grabes und lachte. Und ich konnte nicht mit dem Dämon lachen, und er verfluchte mich, weil ich nicht lachen konnte. Und der Luchs, der für ewige Zeiten in dem Grab haust, kam hervor und legte sich dem Dämon zu Füßen und blickte ihm geruhig ins Antlitz.

Ligeia
    Und es liegt darin der Wille, der nicht stirbt
.
    Wer kennt die Geheimnisse des Willens und seine Gewalt?
    Denn Gott ist nichts als ein großer Wille
,
    der mit der ihm eigenen Kraft alle Dinge durchdringt
.
    Der Mensch überliefert sich den Engeln oder dem Nichts
    einzig durch die Schwäche seines schlaffen Willens
.
    J OSEPH G LANVILL
    Bei meiner Seele! ich kann mich nicht erinnern, wie, wann und wo ich die erste Bekanntschaft machte – der Lady Ligeia. Lange Jahre sind seitdem verflossen, und mein Gedächtnis ist schwach geworden durch vieles Leiden. Vielleicht auch kann ich mich dieser Einzelheiten nur darum nicht mehr erinnern, weil der Charakter meiner Geliebten, ihr umfassendes Wissen, ihre eigenartige und doch milde Schönheit und die überwältigende Beredsamkeit ihrer sanft tönenden Stimme – weil dies alles zusammen nur ganz allmählich und verstohlen den Weg in mein Herz nahm, zu allmählich, als dass ich daran gedacht hätte, mir jene äußeren Umstände einzuprägen.
    Ich habe jedoch das Empfinden, als sei ich ihr zum ersten Mal und hierauf wiederholt in einer altertümlichen Stadt am Rhein begegnet. Und eins weiß ich bestimmt: Sie erzählte mir von ihrer Familie, die sehr alten Ursprungs war. – Ligeia! Ligeia! – Trotzdem ich in Studien vergraben bin, deren Art mehr noch als alles andere dazu angetan ist, mich ganz von Welt und Menschen abzusondern, genügt dies eine süße Wort »Ligeia«, vor meinen Augen ihr Bild erstehen zu lassen – das Bild von ihr, die nicht mehr ist. Und jetzt, während ich schreibe, überfällt mich urplötzlich das Bewusstsein, dass ich von ihr, meiner Freundin und Verlobten, der Gefährtin meiner Studien und dem Weib meines Herzens, den Namen ihrer Familie nie erfahren habe. War es ein schalkhafter Streich, den Ligeia mir gespielt hatte? War es ein Beweis meiner bedingungslosen Hingabe, dass ich nie eine Frage danach tat? Oder war es meinerseits eine Laune, ein romantisches Opfer, das ich auf den Altar meiner leidenschaftlichen Ergebenheit niedergelegt hatte? Der bloßen Tatsache sogar kann ich mich nur unklar erinnern – was Wunder, dass ich die Gründe dafür vollständig vergessen habe! Und wirklich, wenn jemals der romantische Geist der bleichen und nebelbeschwingten Aschtophet des götzengläubigen Ägyptens, wie die Sage meldet, über unglückliche Ehen geherrscht hat, so ist es gewiss, dass er meine Ehe stiftete und beherrschte.
    Immerhin hat mich wenigstens in einem Punkt meine Erinnerung nicht verlassen: Die Persönlichkeit Ligeias steht mir heute noch klar vor Augen. Sie war von hoher, schlanker Gestalt, in ihren letzten Tagen sogar sehr hager. Vergebliches Bemühen wäre es, wenn ich eine Beschreibung der Erhabenheit, der würdevollen Gelassenheit ihres Wesens oder der unvergleichlichen Leichtigkeit und Elastizität ihres Schreitens versuchen wollte. Sie kam und ging wie ein Schatten. War sie in mein Arbeitszimmer gekommen,

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