Gesammelte Werke
denn er behauptet es mit schlichter Überzeugung und glaubt durch Einpassung der im Staub vorgefundenen Splitter einen sicheren Beweis für seine Ansicht erbracht zu haben; kein vernünftiger Leser wird ihm darin misstrauen. Da jedoch die Tatsachen, die sich auf alle Figuren beziehen, höchst eigentümlicher Art sind – besonders wenn man andere Stellen des Berichtes mit ihnen in Zusammenhang bringt –, so möchten doch ein paar Worte darüber erlaubt sein, umso mehr, als die erwähnten Tatsachen Herrn Poes Scharfsinn ohne Zweifel entgangen sind.
Wenn man die Figuren 1, 2, 3 und 5, die von den vier Klüften oder Pingen gebildet werden, in topographischer Reihenfolge nebeneinander stellt (die Abzweigungen und Tore, die nur zur Verbindung zwischen den Haupträumen dienen, kommen hier nicht in Betracht), so bilden sie eine äthiopische Wurzel – die Wurzel des Zeitwortes= »schattig sein«, von dem alle Ausdrücke für Schatten und Dunkel abgeleitet werden.
Was nun die linken oder die nördlichsten der in die Wand gekratzten Linien in Figur 4 (S. 304) anbetrifft, so ist es nicht mehr als wahrscheinlich, dass Peters recht hatte: Diese Hieroglyphe ist künstlich hervorgebracht und sollte eine menschliche Gestalt vorstellen. Der Leser hat die Skizze vor Augen und wird gewiss die Ähnlichkeit bemerken. Die übrigen Einschnitte bestätigen jene Annahme auf ganz überraschende Weise. Die obere Zeichenreihe offenbart sich als die Wurzel des arabischen Zeitwortes= »weiß sein«, von dem alle Ausdrücke für Glanz und Weiße abgeleitet sind. Schwieriger ist die Deutung der unteren Reihe. Die Zeichen sind, wenigstens in Pyms Bleistiftkopie, etwas unklar und vielfach unterbrochen; dennoch ist kein Zweifel möglich, dass sie in ihrem ursprünglichen Zustand das vollständige ägyptische Wort= »Die Region des Südens« gebildet haben. Diese Deutung gibt der Ansicht Peters’ über die nördlichste Figur recht. Der ausgestreckte Arm zeigt nach Süden.
Diese Feststellungen eröffnen dem Nachdenken und allerhand aufregenden Vermutungen ein weites Feld. Man sollte sie doch wohl mit einigen, nur flüchtig ausgeführten Einzelheiten des Berichtes in Verbindung bringen, obwohl sich ein lückenloser Zusammenhang nirgends ergeben könnte. »Tekeli-li!« war der Ruf der entsetzten Bewohner von Tsalal, als sie den Körper des im Meer aufgefischten weißen Tieres erblickten. »Tekeli-li!«, stöhnte schaudernd der gefangene Tsalalier, als ihm die weißen Gegenstände in Herrn Pyms Besitz vor Augen gerieten. Dieser Ausruf gleicht vollkommen dem Schrei der schnellfliegenden, ungeheuren weißen Vögel, die unter dem weißen Dunstvorhang des Südens hervorrauschten. Nichts Weißes war auf Tsalal und auf den benachbarten Inseln zu finden. Es scheint nicht unmöglich, dass »Tsalal«, der Name des Eilands der Klüfte, sich einer genaueren philologischen Nachforschung entweder als ein auf jene Zerklüftung hindeutendes Wort offenbaren oder eine Beziehung zu den geheimnisvollen äthiopischen Zeichen, die dort im Felsengrund eingegraben sind, aufweisen wird.
»Ich grub mein Wort in das Angesicht der Berge und schrieb meine Rache in das Herz des Felsens.«
Schweigen
(Eine Parabel)
»Höre mir zu«, sagte der Dämon und legte seine Hand auf mein Haupt, »die Gegend, von der ich spreche, ist eine traurige Gegend in Libyen an den Ufern des Flusses Zaire. Und es ist weder Ruhe dort noch Schweigen.
Die Wasser des Flusses haben eine safrangelbe und kranke Farbe, und sie strömen nicht vorwärts dem Meere zu, sondern pulsen immer und ewig an gleicher Stelle unter dem roten Auge der Sonne in krampfhaftem, gärendem Toben.
An beiden Ufern des schlammigen Flussbetts dehnt sich eine meilenweite, bleiche Wüste riesenhafter Wasserlilien. Sie seufzen einander zu durch die Einöde und strecken ihre langen und gespenstischen Hälse gen Himmel und wiegen ihre ewigen Kelche. Und aus ihrer unendlichen Schar erhebt sich ein Murmeln wie das Rauschen unterirdischer Wasser. Und sie seufzen einander zu.
Aber ihr Reich hat eine Grenze, und diese Grenze ist der dunkle, hohe, entsetzliche Wald. Hier ist das niedrige Unterholz in immerwährender Bewegung; doch durch den ganzen Himmelsraum rührt sich kein Wind. Und die hohen, uralten Bäume schwingen ewig hin und her mit krachendem, gewaltigem Ton. Und von ihren hohen Gipfeln fällt Tropfen um Tropfen ewiger Tau. Und an ihren Wurzeln winden sich in wirrem Schlaf seltsame giftige Blumen. Zu Häupten jagen die großen,
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