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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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zuerst nur die Hände und Finger, dann floss die Unruhe durch ihre Arme zu ihrem Herzen, verstärkte sein hastiges Schlagen und breitete sich über Bauch und Schenkel bis hinunter zu den Füßen aus. Er schritt direkt auf sie zu, sah weder nach rechts noch nach links, sondern hatte den Blick bereits fest auf sie geheftet, und die plötzliche Beschleunigung seiner Schritte zeigte ihr an, dass er nun ganz offensichtlich fündig geworden war.
    Ich bin es, nach der er gesucht hat, dachte Marian, und obgleich sie immer noch keine Angst verspürte, war sie doch erschrocken. Für einen Augenblick war sie versucht, sich die Bettdecke bis an den Hals hochzuziehen, um sich vor diesen dunklen, umschatteten Augen zu verstecken. Dann aber wurde ihr klar, dass er in diesem Fall bemerkt hätte, dass sie wach war und ihn beobachtete. Also blieb sie reglos liegen, halb betäubt vom lauten Hämmern ihres Herzens, und – wieder ein Beweis dafür, dass sie träumte – obgleich sie die Augen geschlossen hielt, konnte sie den schattenhaften Besucher deutlich erkennen.
    Sein schwarzes dichtes Haar fiel ihm über Stirn und Schläfen, als er sich über sie beugte. Sie glaubte, zu erstarren, regte kein Glied, obgleich sie innerlich zitterte wie Espenlaub. Durch ihre geschlossenen Lider hindurch konnte sie seine Augen sehen, die schwarz wie die Nacht waren, samtig. Dann meinte sie, einen schwachen dunkelblauen Glanz darin wahrzunehmen. In seinen Zügen las sie lächelndes Erstaunen.
    Langsam, fast scheu, hob der Fremde die rechte Hand, ließ sie über Marians Gesicht schweben, und sie fieberte dieser nahenden Berührung entgegen, die das Wunderbarste und Aufregendste sein würde, das sie je in ihrem Leben gespürt hatte.
    Da drang der erste Vogelruf aus dem Garten in den stillen Schlafsaal, ein Triller aus voller Brust geschmettert, der Morgengesang eines Amselmännchens, das den erwachenden Sommertag begrüßte. Der dunkle Besucher erstarrte in seiner Bewegung, ließ die Hand sinken, trat von Marians Lager zurück. Er hatte den Kopf gehoben, und sie bemerkte, dass seine Nasenflügel bebten – tatsächlich drang jetzt ein stechender Geruch in den Schlafsaal: Mrs. Crincle verbrannte um diese frühe Stunde gewöhnlich die Gartenabfälle. Marian sah den fremden Gast an den Säulen vorübergleiten, jetzt schon konturenlos, einem Nebel gleich, dann vereinigte sich die Erscheinung mit dem dunklen Viereck des Gemäldes, das inzwischen an der gekalkten Wand erkennbar war.
    »Du bist ja schon wach«, vernahm sie die morgenheisere Stimme ihrer Bettnachbarin Kate. »He – gibt’s da auf dem alten Ölschinken was Aufregendes zu sehen, oder starrst du nur so in die Luft?«
    Die schwebende, traumähnliche Stimmung zerriss unter Kates fröhlichem Gekicher, und Marian hatte das Gefühl, aus großer Höhe herabzustürzen. Sie seufzte tief und schloss die Augen.
    »Ich fürchte, du hast wieder mal Gespenster gesehen, wie?«, meinte Kate nun und gähnte dann herzhaft.
    »Aber nein. Es war … ich dachte, ein Vogel hätte sich in den Saal verirrt …«
    »Ein Vogel?«, fragte Kate ungläubig und rieb sich die Stirn, weil die schweißfeuchten roten Löckchen kitzelten. »Wohl eher eine Fledermaus.«
    Kate hatte keine Zeit mehr, über ihren Scherz zu kichern, denn in diesem Augenblick vernahm man die wohlbekannten und allseits verhassten Schritte der Pensionatsleiterin auf dem Steinfußboden des Flurs. Der Messingknauf quietschte, als Mrs. Potter die Tür öffnete – es war seltsam, dass Mr. Crincle niemals auf die Idee kam, diesen Knauf zu ölen. Mrs. Potters Händeklatschen schallte wie eine Salve Pistolenschüsse durch den Schlafsaal.
    »Aufstehen – die Nacht ist vorbei! Heute ist die gelbe Gruppe zuerst im Waschraum, dann die blaue und am Schluss die grüne. In einer halben Stunde will ich euch alle beim Frühstück sehen! Und wenn ich sage ›alle‹, dann meine ich genau das!«

Kapitel 2
    Wie immer klangen die Stimmen der Mädchen beim Absingen des fünfstrophigen Morgenliedes ziemlich heiser, auch fehlte die rechte Begeisterung, denn alle waren hungrig und hätten sich gern niedergesetzt und mit dem Frühstück begonnen. Mrs. Potter erteilte die Erlaubnis dazu jedoch erst, nachdem sie das obligate Morgengebet gesprochen und alle Zöglinge an die Tugenden eines jungen Mädchens – nämlich Fleiß, Gehorsam und Bescheidenheit – gemahnt hatte. Früher hatte sie dem noch einige Sätze über die Bestimmung der Frau zur Ehefrau und Mutter

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