Gesang der Daemmerung
angeschlossen, da aber zwei der Neuzugänge unter Blutarmut litten und schon mehrfach während Mrs. Potters Morgenansprache bewusstlos zu Boden gesunken waren, hatte die Leiterin sich inzwischen zu einer gekürzten Version entschlossen.
»Setzt euch jetzt zum Frühstück nieder! Ich will kein albernes Geschwätz und kein Gekicher hören – Jessica Meller, ich habe deine Grimasse sehr wohl gesehen und werde einen Eintrag machen …«
Mit einem Plumps ließ die mollige Lisa sich auf ihren Stuhl fallen und riss erleichtert den Löffel an sich. Der Stuhl knackte bedenklich unter dem Ansturm ihrer Pfunde, doch das alte Möbelstück hatte schon viele Zöglinge überlebt und wusste auch Lisas beachtlichem Gewicht standzuhalten.
»Wenn diese Pampe doch wenigstens ein wenig süßer wäre!«, seufzte sie, während sie in ihrem lauwarmen Porridge rührte. »Aber natürlich – Zucker und Honig sind teuer, an uns können sie ja sparen!«
»Psst!«, ermahnte die rothaarige Kate sie und sah mit bedeutungsvollem Blick zu Gwendolyn hinüber, die neben Marian saß und scheinbar gleichgültig ihren Löffel ableckte. Gwendolyn stand im Verdacht, solche Äußerungen Mrs. Potter zu überbringen. Das war ihr durchaus zuzutrauen, weil sie gern Mrs. Potters Lieblingsschülerin sein wollte. Neulich hatte sie im Flur vor der Schulleiterin geknickst und gebeten, das zusammengefaltete Schultertuch, das über Mrs. Potters Arm hing, für sie tragen zu dürfen.
Doch die blonde Lisa zuckte nur mit den Schultern und fügte kalt lächelnd hinzu, dass der Porridge heute nicht einmal steif, sondern ausgesprochen wässrig wäre. Sie konnte sich einiges herausnehmen, weil ihr Vater eine Stellung in der Finanzbehörde innehatte. Er war dort zwar kein großes Tier, aber Mrs. Potter und vor allem Mr. Duncester, dem das Pensionat gehörte, hatten großen Respekt vor ihm und behandelten die mollige Lisa stets nachsichtiger als alle anderen Mädchen.
Kate gab es auf und wandte sich lieber Marian zu, die heute ganz besonders verträumt dreinblickte und den Haferbrei gedankenschwer in sich hineinlöffelte.
»Am Sonntag wollen meine Eltern mich besuchen, Marian. Und ich wette, sie haben sich meinen Vorschlag überlegt und laden dich ein! Du liebe Güte – es wäre einfach großartig, wenn du meinen Vetter George kennen lerntest …«
»Ach, Kate! Was du immer für verrückte Einfälle hast! Weshalb sollte ich wohl deinen Vetter George kennen lernen?«
»Weshalb? Natürlich damit er um dich anhält! Er wohnt doch mit seinen Eltern in unserer Straße. Wenn du also seine Frau wärst, könnten wir einander täglich besuchen. Wäre das nicht großartig?«
»Schon …«, murmelte Marian, die von solchen Gesprächen nicht viel hielt. Weshalb dachten eigentlich all ihre Freundinnen an nichts anderes als ihren zukünftigen Ehemann? Aber natürlich, die grüne Gruppe – das waren die älteren Zöglinge, zu denen auch Marian und Kate gehörten – würden das Pensionat in wenigen Monaten verlassen. In diesem Winter sollten die jungen Mädchen dann »in die Gesellschaft eingeführt werden«, was nichts weiter bedeutete, als dass man Jagd auf eine gute Partie zu machen hatte. Für Kate, die in guten Verhältnissen lebte und hier in London eine weitverzweigte Familie besaß, war das nicht allzu schwer. Marians Chancen hingegen standen denkbar schlecht. Ihre Eltern lebten nicht mehr, und die Familie ihres Vaters würde ganz sicher keinen Finger rühren, um dem jungen Mädchen zu einer günstigen Heirat zu verhelfen. Auch ihr Vormund Mr. Strykers, der immer so gönnerhaft tat, würde in dieser Beziehung nicht viel unternehmen. Wenn Kates Eltern sie tatsächlich zu einer Abendgesellschaft einluden, bedeutete das eigentlich eine große Chance für Marian. Dennoch konnte sie sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, Kates Vetter schöne Augen zu machen, um von ihm geheiratet zu werden. Sie war ihm bei einem gemeinsamen Sonntagsausflug im Frühling begegnet. Er war spindeldürr, hatte rotes Haar wie Kate und stotterte vor Schüchternheit.
Am oberen Tischende, wo Mrs. Potter und Miss Woolcraft saßen, war inzwischen auch Reverend Jasper zum Frühstück erschienen, ein pensionierter Geistlicher, der den Mädchen täglich Religionsunterricht erteilte. Er war weißhaarig und hatte eine Nase wie ein Haken, dazu zwang sein Rheuma ihn zu einer gekrümmten Körperhaltung. Dennoch war sein Unterricht nicht übel, denn er konnte die biblischen Geschichten auf spannende Weise
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