Gesang der Daemmerung
Klassenzimmer hing. Auch Kate schien vor sich hinzudösen, und Lisa hatte sogar die Augen geschlossen. Dazu vernahm Marian das beharrliche Summen einiger Stubenfliegen, die immer wieder verzweifelt versuchten, durch die Fensterscheiben hindurch in den blühenden Garten zu gelangen.
Was das heute Früh doch für ein merkwürdiger Traum gewesen war! Sie hatte doch geträumt, oder etwa nicht? Marian beschloss, nicht mehr über dieses Problem nachzudenken. Im Grunde war es gleich, ob Traum oder nicht, es war auf jeden Fall nicht die Wirklichkeit gewesen. Leider nicht. Sie spürte noch einmal dem Moment nach, als der geheimnisvolle Fremde sich über sie beugte und mit nachtblauen, dunkel umschatteten Augen betrachtete. Ein süßer Schauder durchlief ihren Körper, eine aufregende Mischung aus Sehnsucht und Erschrecken. Noch nie hatte sie etwas so sehr herbeigewünscht wie die Berührung seiner Hand, und zugleich verspürte sie die unbestimmte Furcht, dabei Schaden zu nehmen, vielleicht sogar daran sterben zu müssen.
»Was wissen wir noch über die drei Weisen? Marian!«
Reverend Jasper blinzelte mit leichtem Spott zu ihr hinüber, denn es war ihm nicht entgangen, dass Marian vor sich hinträumte. Das Mädchen fuhr tatsächlich zusammen und erhob sich von ihrem Stuhl, wie es eine Schülerin üblicherweise zu tun hatte, wenn sie aufgerufen wurde.
»Sie … sie kamen nach Bethlehem und brachten dem Jesuskind Gold, Weihrauch und … und … noch was.«
»Aha!«, tat Reverend Jasper erstaunt, obgleich diese Antwort nun wirklich leicht gewesen war. »Gold, Weihrauch und was noch? Wer weiß es?«
»Myrten!«, vermutete Gwendolyn mit ernsthafter Miene.
Reverend Jasper behielt Haltung und bemerkte nur bissig, es gäbe Mädchen, die Tag und Nacht über ihr künftiges Hochzeitskleid und den dazugehörigen Myrtenkranz nachsinnen würden, im Stall von Bethlehem hätte es für derartigen Tand jedoch keine Verwendung gegeben.
»Gold, Weihrauch und …?«, forschte er und ließ seinen Blick im Zimmer umherwandern.
»Möhren«, schlug Lisa vor und erntete Kopfschütteln.
»Na, die konnten sie doch wirklich gebrauchen«, verteidigte sie sich unverdrossen. »Für den Ochsen und den Esel!«
Betsy wusste die richtige Antwort, sie hatte sich schon eine ganze Weile gemeldet, doch Reverend Jasper nahm sie nicht dran. Das schmale blasse Mädchen hatte eine ungeheure Merkfähigkeit, sie lernte ganze Kapitel aus der Bibel ohne Schwierigkeiten auswendig. Mit dem Verständnis für das Gelernte haperte es jedoch. Auch jetzt konnte sie nicht erklären, was Myrrhe eigentlich war.
»Das ist ein Harz, so ähnlich wie Weihrauch«, erklärte der Reverend. »Ein sehr teures und wertvolles Geschenk. Braune Krümel, die man anzündet, damit sie ihren Räucherduft verbreiten. Räucherwerk dient dazu, unreine Geister zu vertreiben …«
Die Tür des Unterrichtsraums wurde ohne Vorwarnung geöffnet, und Mrs. Potter platzte herein. Als Leiterin von Schule und Pensionat nahm sie sich die Freiheit heraus, in jeden Raum einzutreten, ohne sich vorher durch Anklopfen bemerkbar zu machen. Sie drückte sich den Zwicker, der an einem Seidenband vor ihrer flachen Brust baumelte, auf die Nase und überflog die Reihen der Schülerinnen.
»Marian Lethaby!«
Marian fuhr von ihrem Stuhl hoch, begleitet von mitleidigen und hämischen Blicken ihrer Mitschülerinnen. Oha, da musste ja etwas Schlimmes passiert sein, wenn Mrs. Potter höchstpersönlich anrückte! Arme Marian! Die Potter konnte sie sowieso nicht leiden.
»Ja, Mrs. Potter?«
Die Schulleiterin betrachtete das Mädchen von oben bis unten, als müsste sie Maß für ein neues Sommerkostüm nehmen.
»Folge mir! Du hast Besuch.«
»Ja, Mrs. Potter …«
Besuch – das konnte eigentlich nur Mr. Strykers, ihr Vormund sein, andere Leute besuchten sie nicht. Erleichtert atmete Marian auf, im Vorübergehen stieß sie zu ihrem Unglück jedoch an ein Buch, das auf Kates Pult gelegen hatte und nun mit einem lauten Knall auf den Boden fiel. Hastig bückte sie sich, um das Missgeschick wieder in Ordnung zu bringen, und sah dann kurz in Lisas grinsendes Gesicht. Die hatte gut lachen, sie war bei Mrs. Potter gut angeschrieben, da musste schon viel passieren, dass Lisa einmal bestraft wurde!
»Kannst du nicht aufpassen?«, schalt auch schon die Schulleiterin. »Heute Nachmittag, wenn die anderen im Garten sind, wirst du dich in der Küche nützlich machen!«
»Ja, Mrs. Potter …«
Marian ging hinter der
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