Gesang der Daemmerung
nicht. Doch sobald es sich der Mitte des Raums nähert – dort, wo die Säulen noch als schwarze Schatten in grauer Dämmerung standen –, würde es möglich sein, seine Konturen zu erkennen. Es gab Träume, die man mit seinem Willen beeinflussen konnte, und dieser schien ein solcher zu sein, denn dieses Mal stimmte ihre Vermutung.
Da war sie wieder, die seltsame Gestalt, sie schien sich aus den wehenden Grautönen der Dämmerung zusammenzufügen, war jetzt sogar deutlicher als zuvor, die Umrisse härter, das Wesen fast Materie. Das war kein Nebelstreifen, was da an den Säulen vorüberglitt, um nun auf der anderen Seite des Saals zwischen den Eisenbetten der Schlafenden umherzuschleichen. Es glich auch nicht mehr Miss Woolcrafts üppiger wabernder Form – kein Schleier, kein wehendes Gewand.
Dort stand ein fester Körper, ein Mensch, der sich jetzt ein wenig vornüberbeugte, um ein schlafendes Mädchen zu betrachten. Marian konnte den langen Gehrock erkennen, über dessen Kragen sich ein Schal oder ein Tuch bauschte, das Kinn und Mundpartie des Wesens verbarg. Sicher war nur, dass es sich um einen Mann handelte. Ob alt oder jung, bärtig oder glatt rasiert war nicht auszumachen. Aber vermutlich war er jung, denn sein Haar war rabenschwarz.
Sie träumte, daran konnte nicht gezweifelt werden. Wäre Marian wach gewesen, hätte sie jetzt laut um Hilfe schreien müssen. Ein fremdes männliches Wesen, noch dazu im langen Gehrock, das im Schlafsaal der Mädchen umherstieg und die nur mit ihren Nachthemden bekleideten Zöglinge mit frechem Blick anstarrte – großer Gott! Ein solches Vorkommnis konnte dazu führen, dass das Pensionat in Verruf geriet, schlimmstenfalls sogar seine Pforten schließen musste. Auch der gute Ruf der ahnungslosen Mädchen würde in diesem Fall Schaden nehmen, zumal man befürchten musste, dass der Eindringling es nicht dabei bewenden ließ, die schlafenden Zöglinge nur anzustarren. Nein, Marian hätte spätestens jetzt mit lauter Stimme nach Mrs. Potter, der Institutsleiterin, und Mr. Crincle, dem Hausmeister, rufen müssen. Was sich dann hier im Schlafsaal ereignet hätte, war unschwer zu erraten, denn ihr Geschrei hätte auch die Mädchen aus dem Schlaf gerissen …
Aber da es sich ja nur um einen Traum handelte, tat sie nichts dergleichen. Stattdessen verfolgte sie das Tun des Fremden mit gelassener Neugier, spürte das immer rascher werdende Klopfen ihres Herzens und empfand es als angenehm. Was auch immer dieser Traum mit ihr vorhatte, er war schön und aufregend, denn ihm haftete die süße Verlockung des Verbotenen an.
Die Erwartung schärfte Marians Sinne – oder war es ihr Vorstellungsvermögen? Obgleich der Fremde sich ihrem Bett nur wenig näherte, konnte sie jetzt weitere Details erkennen. Wenn er sich gerade aufrichtete, erschien er ihr sehr groß. Der graue Gehrock saß nur an den Schultern fest an seinem Körper, ansonsten war das Kleidungsstück zu weit und ganz sicher für einen anderen Träger geschneidert. Während die Schlafgeräusche der Mädchen ungehindert an ihre Ohren drangen, verursachte der seltsame Besucher keinen einzigen Laut, nicht einmal seine ledernen Stiefel hörte man knarren, von Fußtritten auf dem steinernen Boden ganz zu schweigen. Er bewegte sich gemächlich, als befände er sich in vollkommener Sicherheit, während doch in jedem Augenblick eine der Schlafenden erwachen und in panisches Geschrei ausbrechen konnte. Auch diese Tatsache bewies, dass das Ganze nur ein Traum war.
Der Mann schien bisher nicht fündig geworden zu sein – oder suchte er vielleicht gar nichts, sondern hatte eigenartigerweise nur Gefallen daran, schlafende Mädchen zu betrachten? Jetzt erschien er wieder in der Mitte des Raumes, blieb dort einen Moment lang zögernd stehen, und während er den Saal abschätzend musterte, konnte Marian endlich sein Gesicht sehen. Er war bartlos, seine Haut von einer fahlen Blässe, die an Mondlicht erinnerte, die Züge ebenmäßig, Kinn und Nase kräftig, die Lippen schmal, doch schön geformt. Seltsam waren seine Augen, die Marian sehr tief und dunkel erschienen und die von Schatten umgeben waren.
Er näherte sich, ging mit lautlosen Schritten auf ihr Lager zu. Sein Körper hatte etwas Schwebendes, als wöge er nichts, doch sie fühlte – konnte man in einem Traum überhaupt fühlen? – einen sachten Luftzug wie einen leisen Hauch, nicht kühl, sondern warm wie der Atem eines Lebenden. Unwillkürlich begann ihr Körper zu zittern,
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