Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
für dich tun?«, fragte mein Mann besorgt.
»Was hast du dir denn da so vorgestellt?«, fragte ich zurück.
»Vielleicht möchtest du etwas essen oder so?«
»Isst du etwas, wenn’s dir total elend geht?«, giftete ich genervt.
Jetzt sah er richtig hilflos aus. In den letzten Wochen hatte ich eine völlig neue Seite an ihm kennengelernt: Unsicherheit. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen. Er wollte mir ja nur beistehen und irgendwie helfen. Wir wollten ja jetzt alles gemeinsam machen. Das hatten wir uns vor gerade mal etwas mehr als einem Jahr versprochen, auf unserer wundervollen Hochzeit. Aber hier musste ich jetzt wirklich alleine durch, daran ließ sich einfach nichts ändern.
So weh mir gerade alles tat, so anstrengend es gerade war und so sehr ich mir auch wünschte, alles hinter mir zu haben, so sehr freute ich mich auch über jede Wehe. Oder redete mir das zumindest ein. Ein bisschen Autosuggestion war ein gut gemeinter Rat von meiner Hebamme gewesen. Aber eigentlich hatte sie recht, denn jede Wehe brachte mir ja das von uns ersehnte neue Leben ein Stück näher.
Die letzten Monate waren geprägt gewesen von vielen widersprüchlichen Gefühlen: Angst, Sorgen, Ungewissheit, aber vor allem von einer unbändigen Vorfreude und tiefer Liebe, wie ich sie zuvor noch nie empfunden hatte. Etwas Neues kam auf uns zu. Ich hatte mir mein Leben so hart erarbeitet, und jetzt würde es komplett umgekrempelt werden. Aber ich hatte keine Angst, sondern konnte es kaum noch aushalten vor Spannung und Neugier. Ich war glücklich, voller Tatendrang und vor allem voller Kraft, wie ich das selten erlebt hatte. Die Sonne schien. Ich war bereit für einen Neuanfang. Ich war bereit für ein neues Leben. Ich war bereit für mein Kind! Das ich niemals wieder hergeben würde.
Zwei Welten
Das Schönste im Leben ist, dass unsere Seelen nicht aufhören, an jenen Orten zu verweilen, wo wir einmal glücklich waren.
KHALIL GIBRAN
»Hey, Janine, der Ball ist heiß, gleich treff ich dich!« Markus holte weit aus, als könnte er die Wucht des Aufpralls damit steigern. Gar nicht so einfach mit einem Softball.
Ich grinste.
»Du kriegst mich niemals! Dazu müsstest du ja zielen können«, rief ich und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich wollte gewinnen, auch wenn die Lage im Moment eher aussichtslos war. Ich hatte diesmal die Loser-Mannschaft erwischt und nur noch Claudi und ich standen auf dem Feld. Alle anderen waren »Geister« und mussten außerhalb des Feldes bleiben, das wir mit weißen Kreidesteinen auf den Asphalt gemalt hatten. Markus zielte, warf, und mit einer blitzschnellen Bewegung nach rechts drehte ich mich dem Ball entgegen.
»Gefangen! Gefangen!«, triumphierte ich und hüpfte mit dem Ball in der Hand auf und ab, als wäre ich ein Flummi.
»Blöde Kuh!«, sagte Markus.
Er ärgerte sich schwarz. Ich war zwar gerade erst neun geworden, aber im Völkerball war ich auch für die Älteren kaum zu schlagen. Markus war schon zehn und ging in die vierte Klasse. Ich ging in die dritte. Markus fand es blöd, dass ich ihm immer entwischte, und dachte sich ständig neue Beschimpfungen für mich aus. Aber das war mir egal, solange ich gewann. Meine Mannschaft jubelte. Völkerball war das Beste überhaupt. Mein absolutes Lieblingsspiel.
Seit einer Woche waren Osterferien. »Kaum zu glauben, wie warm es schon ist. Dabei ist doch erst Ende März!«, sagte Mama ungefähr zehn Mal am Tag. In unserer Straße gab es nur noch eins: Völkerball spielen, bis die Laternen angingen und unsere Mütter uns zum Abendessen riefen. Alle Kinder wohnten in einem der Reihenhäuser, die eigentlich alle gleich aussahen: Jägerzaun, Vorgarten, Haustür mit Vordach, zwei Fenster unten, zwei Fenster oben, rote Dachziegel. Bei manchen hatte das Vordach Ziegel, bei anderen war es aus gewelltem Glas. Manche Häuser waren grün, andere braun und wieder andere weiß. Das waren die einzigen Unterschiede. Hinten hatten wir alle noch einen kleinen Garten und eine Terrasse, auf der wir manchmal mit den Nachbarn grillten. Auf der Straße parkten ein paar Autos. Außer unseren Eltern, unseren Verwandten und Bekannten fuhr hier niemand rum. Es gab hier auch keine Läden. Nur jede Menge Reihenhäuser, Gärten und Garagen. Wir konnten die ganze Straße als Spielfeld benutzen.
Mist, Claudi war getroffen und zum Geist geworden! Jetzt hing alles an mir. Vor Spannung kribbelte es in meinen Fingern.
»Ach du Scheiße, schaut euch den Wagen an!«,
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