Geschichte der deutschen Sprache
Zeitraum von etwa vierhundert Jahren, der im 6. Jahrhundert (möglicherweise bereits im 5. Jahrhundert) beginnt und im 8. oder 9. Jahrhundert endet. Dabei kann die Zweite Lautverschiebung in verschiedene zeitlicheAbschnitte mit einer jeweils unterschiedlichen räumlichen Ausbreitung gegliedert werden (vgl. hierzu auch die Abbildung auf S. 23).
Der erste Abschnitt besteht in einer Verschiebung der stimmlosen Verschlusslaute (Tenues)
p
,
t
und
k
zu den entsprechenden Reibelauten (Frikativen)
f
,
s
und
ch
(die hierbei bisweilen entstehenden Doppellaute
ff
,
ss
und
hh
werden im weiteren Verlauf wiederum zu
f
,
s
und
ch
vereinfacht). Dieser erste Teil der sog. Tenuesverschiebung beginnt spätestens im 6. Jahrhundert und setzt sich südlich einer Linie, die sich vom Kölner Raum im Westen bis etwa an die Neiße-Mündung im Osten erstreckt, im gesamten mittleren und südlichen Sprachraum durch; er umfasst heute weitgehend die mittel- und oberdeutschen Mundarten. Als Beispiel mögen hier die germanischen Wörter
slēpan
,
etan
und
ik
gelten, die im Althochdeutschen
slāfan
,
ëzzan
und
ih
(neuhochdeutsch
schlafen
,
essen
und
ich
) lauten.
Im Gegensatz zu diesem ersten Teil der Tenuesverschiebung, der sich über den gesamten hochdeutschen Raum erstreckt, zeigt deren zweiter Teil eine deutliche zeitliche und räumliche Staffelung. Er beginnt im 5. oder 6. Jahrhundert mit einer Verschiebung des Verschlusslautes
t
zum entsprechenden Kombinationslaut (der entsprechenden Affrikate)
tz
, welche ebenfalls über das gesamte hochdeutsche Gebiet reicht (so etwa im Falle von germanisch
*taiknam
,
*holta
und
*satjan
, die althochdeutsch
zeihhan
,
holz
und
setzen
bzw. neuhochdeutsch
Zeichen
,
Holz
und
setzen
lauten). Im 6. oder 7. Jahrhundert folgt darauf die Verschiebung des Verschlusslautes
p
zum entsprechenden Kombinationslaut
pf
(zum Beispiel im Falle von germanisch
*plegan
,
*helpan
und
*appla
, im Althochdeutschen
pflegan
,
helfan
und
apful
und im Neuhochdeutschen
pflegen
,
helfen
und
Apfel
). Diese Verschiebung ist jedoch nur südlich einer Linie zu finden, die sich vom Gebiet um Karlsruhe nordöstlich bis in den Süden des Erzgebirges zieht, und erstreckt sich somit nicht über den gesamten hochdeutschen, sondern nur über den oberdeutschen Mundartraum. Die letzte Verschiebung, nämlich diejenige von
k
zu
kch
, erfolgt im 7. oder 8. Jahrhundert und zeigt sich nur im äußersten Süden des oberdeutschen Sprachgebiets (zumBeispiel bei
*korna
,
*werka
und
*wekkian
im Germanischen gegenüber
kchorn
,
werkch
und
weckchan
im Altbairischen und
Korn
,
Werk
und
wecken
im Neuhochdeutschen).
Die Verschiebung der stimmlosen Verschlusslaute zu den entsprechenden Reibe- und Kombinationslauten wird im 8. und 9. Jahrhundert durch einen weiteren Lautwandel, der ebenfalls der Zweiten Lautverschiebung zugerechnet wird, begleitet. Es handelt sich hierbei um die sog. Medienverschiebung , bei der die stimmhaften Verschlusslaute (Medien)
b
,
d
und
g
zu den entsprechenden stimmlosen Verschlusslauten
p
,
t
und
k
umgewandelt werden. Auch diese Entwicklung zeigt eine verhältnismäßig klare räumliche Staffelung: So findet sich die Verschiebung von
d
zu
t
im gesamten oberdeutschen Raum (wie etwa im Falle von germanisch
*dag
, das hier in althochdeutscher Zeit zu
tag
, neuhochdeutsch
Tag
, wird). Der Wandel von
b
zu
p
(vgl. germanisch
bl
ō
d
und altbairisch
pluat
, neuhochdeutsch
Blut
) sowie derjenige von
g
zu
k
(vgl. germanisch
*geban
und altbairisch
keban
bzw.
kepan
, neuhochdeutsch
geben
) bleiben dagegen auf die südlichen Regionen des Alemannischen und Bairischen beschränkt.
All diese Erscheinungen der Zweiten Lautverschiebung tragen zu der bis heute mehr oder weniger gültigen Grobgliederung der deutschen Mundarten bei. Dabei wird zunächst zwischen den hochdeutschen und den niederdeutschen Mundarten (mit bzw. ohne Lautverschiebung) unterschieden. Das Hochdeutsche wiederum gliedert sich dann in den ober- und in den mitteldeutschen Raum (mit vollständig bzw. unvollständig durchgeführter Lautverschiebung). Die einzelnen Erscheinungen der Zweiten Lautverschiebung treten somit im Süden des hochdeutschen Sprachgebietes am stärksten auf und nehmen von hier aus nach Norden immer weiter ab, bis sie im niederdeutschen Raum ganz fehlen. Daher liegt die Vermutung nahe, dass der Lautwandel im äußersten Süden (bzw. Südwesten) begonnen und sich dann in mehreren Schüben nach Norden hin ausgebreitet hat. Dass diese sog. Wellentheorie jedoch
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