Weihnachtszauber 02
PROLOG
Welbourne Manor, Sommer 1820
Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte Lady Mary Derrington, während sie in dem kleinen Tempelnachbau auf und ab ging. Leise hallten ihre Schritte von den Marmorfliesen wider. Aus den Fenstern von Welbourne Manor am anderen Ende des Gartens drang ein warmes, golden scheinendes Licht, das die Nacht erhellte.
Gewiss waren die Gäste immer noch mit dem fröhlichen Blindekuh-Spiel beschäftigt, doch Mary hatte den Trubel der Gesellschaft nicht länger ertragen können. Plötzlich schienen die Wände immer näher zu rücken, drohten sie zu ersticken, und sie hatte das drängende Bedürfnis verspürt, dem zu entfliehen.
Das beklemmende Gefühl wich jedoch auch in dem kleinen Tempel nicht. Es war ein Ort für Liebende, für heimliche Stelldicheins und gemurmelte Liebesschwüre. Auf einem Podest stand eine Statue des Liebesgottes Amor. Den Pfeil im Anschlag haltend, blickte er lächelnd auf mehrere kleine, gemütliche Bänke in einer dunklen Nische.
Mary betrachtete ihn verdrossen. Mit diesem Pfeil sollte er besser nicht auf sie zielen – nicht noch einmal.
Sie ging zu den Steinstufen des Tempeleingangs und blickte, die Arme eng um die Brust geschlungen, zu dem großen Herrenhaus hinüber. Das Heim der besten Freunde ihres Schwagers hatte bei ihrer Ankunft wahrlich einladend gewirkt, so freundlich, lärmend und voller Lebensfreude. Die Familie Fitzmanning war für ihren Frohsinn bekannt, weshalb Mary nur widerwillig ihr Zuhause Derrington Hall verlassen und sich aus der Trauer um ihren vor vielen Monaten verstorbenen Gatten William Lord Derrington gelöst hatte. Sie war überzeugt gewesen, dass man sie für eine sauertöpfische Witwe halten würde, die mit sechsundzwanzig Jahren bereits vorzeitig gealtert war.
Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich jedoch nicht. Die Familie hatte sie in höchst liebenswürdiger Weise in ihren Kreis aufgenommen. Insbesondere mit Charlotte, der jüngsten Tochter, die Mary an ihre eigenen drei Schwestern erinnerte, verband sie inzwischen eine innige Freundschaft. Mary hatte diesen Besuch zunehmend genossen und sich immer wohler gefühlt. Aber dann ...
Dann war er gekommen – Dominick. Er war so charmant und attraktiv wie eh und je.
Nein, attraktiver sogar, denn seine Gesichtszüge hatten nun die Vollkommenheit angenommen, die sein jugendliches Antlitz einst verheißen hatte. Stürmisch hatte ihr Herz in ihrer Brust gepocht, als sie ihn beim Dinner mit Charlotte lachen und scherzen sah. Sie hatte große Mühe, während der endlos erscheinenden Mahlzeit eine fröhliche Miene beizubehalten, gelassen ihren Wein zu trinken und vorzugeben, dass ihre Welt nicht plötzlich kopfstand.
Unverwandt ruhte ihr Blick auf dem Haus, indes nahm sie dessen Fassade nicht wahr. Vor ihrem inneren Auge sah sie das romantische, unbeschwerte Mädchen, das sie vor ihrer Ehe mit William gewesen war. Sah eine verlassene Terrasse auf einem Ball, sich selbst in einem weißen Kleid hinter einer Topfpalme und Dominick, der sie verführerisch anlächelte. Sein goldblondes Haar schimmerte im Mondlicht, als er den Kopf beugte, um sie zu küssen. Fast konnte sie wieder die sanfte, warme Berührung seiner Hände auf ihren bloßen Armen spüren ...
„Nein!“ Heftig schüttelte Mary den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben. Sie hatte sie all die Jahre beharrlich unterdrückt und versucht zu vergessen. Fast wäre es ihr gelungen. Die Familie ihres Gatten verkehrte – von ihrem Schwager Drew einmal abgesehen – mit gediegenen, auf dem Lande lebenden Familien, während Dominick die Gesellschaft seiner verrufenen Freunde und leichtlebiger Damen in London vorzog. Dank der unterschiedlichen Kreise, in denen sie sich bewegten, waren sie sich bislang nicht mehr begegnet. Sie hatte geglaubt, ihr Herz sei geheilt und sie hätte diese jungmädchenhafte Schwärmerei überwunden, die nichts als ein dummer Fehler gewesen war.
Dem war jedoch ganz und gar nicht so. Als sie am Morgen aus dem Fenster blickte und ihn lachend vom Pferd absteigen sah, war sie wieder zu dem törichten jungen Mädchen von damals geworden. Es war, als hätte es all die vergangenen Jahre nie gegeben, in denen sie eine respektable Ehe geführt und einen Sohn geboren hatte, während Dominick dem skandalösen, ausschweifenden Leben frönte. Bei seinem Anblick hatte sie die gleiche kribbelige Aufregung wie damals verspürt, und sie hatte sich schnell die Hand auf den Mund pressen müssen, um nicht laut
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