Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
um den Wahlvorgang und vor allem die Stimmenauszählung systematisch zu beobachten. Nach Verkündung des offiziellen Ergebnisses monierten die Bürgerrechtler Abweichungen von den Zahlen, die in den Wahllokalen verkündet worden waren. Einsicht in die Protokolle des Wahlverlaufs gewährten amtliche Stellen nicht: «Das ist allein unsere Sache, das geht nun wirklich nicht. Ein Fünkchen Vertrauen müssen Sie schon in uns haben!»
Davon freilich konnte keine Rede sein. Die Bürgerrechtler reagierten mit neuen Methoden: mit Protestresolutionen, Strafanzeigen wegen Wahlfälschung und kleineren Demonstrationen. Altbekannt hingegen waren die Maßnahmen der Staatsmacht: «Anzeigen, die nach §211 Strafgesetzbuch erstattet werden, sind ohne Kommentar entgegenzunehmen. Nach Ablauf der vorgesehenen Fristen für die Anzeigenbearbeitung ist von den jeweils zuständigen Organen zu antworten, dass keine Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat vorliegen. […] Beschwerden gegen die getroffenen Entscheidungen sind […] abschlägig zu entscheiden.» Vielmehr sei für «die gründliche operative Durchdringung feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Personenkreise» zu sorgen, um bei «Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen […] operative Personenkontrollen durchzuführen bzw. diese Personen in operativen Vorgängen zu bearbeiten». Neu war wiederum, dass es damit nicht getan war.
Die Kommunalwahlen wirkten als Initialzündung für eine neue und breitere Formierung der Opposition in der DDR. Es waren zumeist langjährige Aktivisten, von denen die Bildung einzelner Initiativgruppen ausging, die dann im August zur politischen Vereinigung aufriefen. Im September und Oktober folgte schließlich die formelle Gründung oppositioneller Gruppen, in denen in besonderem Maße Theologen und Pfarrer sowie Angehörige der künstlerischen und Intelligenzberufe vertreten waren.
Zur wichtigsten Organisation in dieser Phase avancierte das «Neue Forum», das bewusst nicht als politische Partei, sondern als «politische Plattform» für die innergesellschaftliche Diskussion angelegt war. Gegründet am 9. und 10. September in Grünheide bei Berlin, versammelte das Neue Forum vor allem Intellektuelle wie die Malerin Bärbel Bohley, den Arzt und Molekularbiologen Jens Reich oder den Rechtsanwalt Rolf Henrich. Nachdenklich und unpolemisch war der Gründungsaufruf vom 10. September gehalten: «In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.» Daher bedürfe es «eines demokratischen Dialogs über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur», der«in aller Öffentlichkeit, gemeinsam und im ganzen Land» zu führen sei. Dies war zunächst nicht wirklich revolutionär gedacht. Sobald die SED reformiert sei, sagte Bärbel Bohley, könne «sich das Neue Forum auflösen». Zuerst aber musste es überhaupt zugelassen werden. Der Antrag wurde am 19. September gestellt und – auf Veranlassung des Politbüros – umgehend abgelehnt. Trotz erheblicher Versuche von staatlicher Seite ließen sich die Erstunterzeichner aber nicht einschüchtern; sie stießen vielmehr auf rasch wachsende Zustimmung und Solidarisierung in der Bevölkerung.
Zu dieser Solidarisierungswelle trugen nicht zuletzt die Westmedien bei. Die Informationen aus dem Westen unterliefen die Kontrolle der Öffentlichkeit durch das SED-Regime, und sie sorgten zugleich für die wachsende Verbreitung der Bewegung innerhalb der DDR. Auf diesem Wege traten bestimmte Schlagworte besonders hervor, die Opposition, ihre Ziele und ihre Mittel wirkten einheitlicher, als sie tatsächlich waren, und das Neue Forum gewann besondere Prominenz gegenüber den anderen Gruppen, die sich zeitgleich formierten.
«Demokratie Jetzt», getragen vor allem von dem Physiker Hans-Jürgen Fischbeck, dem Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann und dem Dokumentarfilmregisseur Konrad Weiß, verfolgte einen christlichsozialistischen Ansatz mit einer zivilisationskritischen Komponente. Die Bewegung trat zunächst für einen demokratisch reformierten DDR-Sozialismus als Gegenentwurf zur westlichen Konsumgesellschaft ein. Der «Demokratische Aufbruch» ging aus einer seit Juli aktiven Initiativgruppe um die Theologen und langjährigen Oppositionellen Rainer Eppelmann, Edelbert Richter, Erhard Neubert und Friedrich Schorlemmer hervor, stand zunächst dem Neuen Forum und Demokratie Jetzt politisch nahe, wobei er, wie Demokratie Jetzt, konkreter auf
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