Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
politisches Handeln ausgerichtet war als das Neue Forum. Auch im Falle der «Sozialdemokratischen Partei» in der DDR ging die Organisation auf eine «Initiativgruppe» zurück, die Ende Juli 1989 von den evangelischen Theologen Martin Gutzeit und Markus Meckel gegründet wurde. Als die ostdeutschen Sozialdemokraten am 7. Oktober ihrProgramm verabschiedeten, verstanden sie ihre Organisation dezidiert als politische Partei. Schon mit ihrem Namen bezog sie offen Front gegen die SED, stellte dieser doch deren historischen Legitimationsanspruch als vereinigte Arbeiterpartei grundsätzlich in Frage.
Einig waren die Oppositionsgruppen in der Forderung nach Partizipation und Menschenrechten, vor allem Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, in der Idee einer rechtsstaatlich-partizipatorischen Bürgergesellschaft, die sie dem SED-Staat mit seinem über der Gesellschaft stehenden Lenkungsanspruch der einen Partei gegenüberstellten. Über die konkrete Ausgestaltung traten freilich alsbald deutliche Differenzen auf.
Weniger nachdrücklich artikulierten die Oppositionsgruppen die Forderung nach Reisefreiheit, obgleich die Massenflucht über die sozialistischen Nachbarländer bereits eingesetzt hatte. Hier zeichnete sich ein Graben zwischen dem Hauptstrom der Oppositionsbewegung und der Masse der Bevölkerung ab, der zu den wesentlichen Momenten dieses deutschen Herbstes zählt. Dasselbe gilt auch für die Vorstellungen der Opposition von einem demokratischen Sozialismus auf dem Boden der Zweistaatlichkeit. Nur dies lag freilich zunächst innerhalb des politisch Denkbaren und des öffentlich Kommunizierbaren – eine Abschaffung der DDR und eine deutsche Wiedervereinigung stand bis in den November 1989 hinein nicht auf der Tagesordnung.
Als sich die Opposition formierte, sah es allerdings zunächst nicht so aus, als würde sie das Regime direkt gefährden können. Als «amateurhaft» empfand der Ständige Vertreter der Bundesrepublik einen Auftritt Bärbel Bohleys in der Ost-Berliner Gethsemanekirche, und überhaupt beurteilte er das Verhalten der Initiativgruppen als «weit entfernt […] von effektiver Oppositionsarbeit». Gerade in ihrer vermeintlich unprofessionellen Nachdenklichkeit jedoch wirkte die sich formierende Bewegung authentisch, und zugleich unterlief sie die Abwehrmechanismen des SED-Regimes mit seinen Feindbildern eines Angriffs durch den «Klassenfeind».
Ende der achtziger Jahre geriet die SED von drei Seiten unter Druck: wie ehedem von Westen, nun aber auch von Osten – aus der Sowjetunion – und schließlich aus der eigenen Bevölkerung. Die Parteiführung reagierte auf diese Situation mit Orthodoxie und Reformverweigerung: Perestroika sollte es in der DDR nicht geben. Das war nicht ohne Logik, denn man war sich der Gefahren wohlbewusst, die der sowjetische Reformkurs für die sozialistischen Regime allgemein und für die DDR im Besonderen mit sich brachte. «Wenn sich die ökonomische Basis kapitalistisch gestaltet», so der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes Harry Tisch, «kann sich der sozialistische Überbau nicht halten.» Zudem hing in der DDR, anders als in allen anderen Staaten des sowjetischen Machtbereichs, an der sozialistischen Ideologie nicht nur eine Regierungs- oder Staatsform, sondern der gesamte Staat. Die Staatspartei stand vor einem Dilemma: Reformen gefährdeten den SED-Staat ebenso wie Reformverweigerung – und sie war nicht fähig, einen dritten Weg zu finden.
Stattdessen verabschiedete sich der 76-jährige Erich Honecker zunehmend in eine Scheinwelt, wie er sie im Mai 1989 dem polnischen Staatsratsvorsitzenden Jaruzelski präsentierte: Zwischen Januar und April 1989 habe allein das Nationaleinkommen der DDR um 4,1 Prozent zugenommen und die Arbeitsproduktivität um 6 Prozent. «Er habe noch nie eine solche Demonstration von Freude und Zuversicht erlebt» wie am 1. Mai 1989, und daher wies er weit von sich, was «uns feindlich gesinnte Kräfte» empfählen, nämlich «ebenso wie in der Sowjetunion eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaftsordnung vorzunehmen». Auch im Verhältnis zur Bundesrepublik sitze die DDR «am längeren Hebel».
Im Sommer 1989, als sich die Krise zuspitzte, fiel Honecker infolge von Gallenkoliken sowie einer Gallen- und Darmoperation fast drei Monate lang aus. Um jede Gefährdung seiner Position zu vermeiden, teilte er seine Vertretung zwischen Egon Krenz und Günter Mittag auf – und lähmte damit die Führungsspitze der
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