Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Partei zusätzlich. Dort herrschte freilich einstweilen vermeintlich Normalität. Detailliert beschäftigte sich das Politbüro, immerhin das zentrale politische Entscheidungsgremiumdes Landes, mit dem neu entwickelten Mokick S 51/1 und mit der Versorgung mit Telefonen, Dachpappe und Büstenhaltern. Die aufkommende Opposition in der DDR wurde in den klassischen Feindbildern und Sprachmustern als «feindliche oppositionelle Zusammenschlüsse» des «Gegners» vor allem aus «reaktionären kirchlichen Kreisen» wahrgenommen.
Den «hinterhältigen feindlichen Angriffen der Feinde der DDR» wurde auch die Schuld an der zunehmenden Unruhe im Land gegeben, als das Politbüro die Lage am 29. August dann doch einmal debattierte. Wenn Ministerpräsident Willi Stoph die Lösung schließlich darin sah, «die Versorgung in Ordnung [zu] bringen» und die Öffentlichkeitsarbeit «vielseitiger» zu gestalten, so hatte er die Dimension der Probleme überhaupt nicht erkannt. Vielmehr herrschte im Politbüro auch Ende August noch die unerschütterte Überzeugung, die Situation im Griff zu haben. «Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf», so erinnerte Erich Honecker Mitte August, als er kurz nach Berlin zurückkam, an die «alte Erkenntnis der deutschen Arbeiterbewegung».
Eine konstruktive Strategie gegenüber der anschwellenden Krise konnte daraus nicht erwachsen, und auch zu einer entschlossenen Unterdrückung der Bewegung mit Hilfe der bewaffneten Kräfte fand sich die politische Führung nicht bereit. Vielmehr deutete Günter Mittag die in den folgenden Wochen so charakteristische Hilflosigkeit der Partei- und Staatsführung an: «Ich möchte auch manchmal den Fernseher zerschlagen, aber das nützt ja nichts.»
Und die Staatssicherheit, «Schild und Schwert» der Partei, die das gesamte Land flächendeckend überwachte? In der Tat erfasste sie die Lage sehr viel früher und realistischer als die Parteiführung. Zugleich aber konnten die Akteure der Staatssicherheit ein grundlegendes Unverständnis gegenüber der aufkommenden Bewegung nicht überwinden – schon allein sprachlich: Auch sie bezeichneten die Oppositionsgruppen in ihren Berichten mit hergebrachten Sprachformeln als «feindlich-negative», gar «konterrevolutionäre» Kräfte, als «Provokateure» und «Zusammenrottungen» von «Rowdys». Diese Muster derWahrnehmung, des Denkens und des Redens entsprachen immer weniger der tatsächlichen Entwicklung, und gerade an der Spitze tat sich eine immer größere Kluft auf. Dies stellte Erich Mielke in einer Dienstbesprechung mit Führungskräften der Staatssicherheit am 31. August nachdrücklich unter Beweis, als er sich Gedanken über die Gründe der Flüchtlingsbewegung aus der DDR machte: «Warum, also sie anerkennen die Vorzüge des Sozialismus und alles, was der Sozialismus bietet an Vorzügen, aber trotzdem wollen sie dann weg, weil das betrachten sie als Selbstverständlichkeit und gehen darüber hinweg und kommen dann mit allen möglichen anderen Gründen, die sie vorschieben; deshalb wollen sie weg. Wie ist da die Auswirkung, wie sind da die Auswirkungen unserer Arbeit? Ich meine nicht unserer Staatssicherheit bloß, sondern die politische Einwirkung. Wir wollen ja hier etwas finden und wollen suchen und finden, was wir vorschlagen können, was noch verbessert werden muss […] Naja gut, danke. Es ist natürlich schwer.»
Die Staatssicherheit war nicht in der Lage, die Sicherheit des Staates zu gewährleisten – im Gegenteil. Um sie zu überwachen, beteiligten sich Kräfte der Staatssicherheit an der Oppositionsbewegung, und in der Tat war das MfS bestens informiert. Statt aber die zu bekämpfende Bewegung zu zersetzen, wirkten seine Inoffiziellen Mitarbeiter, um nicht aufzufallen, an den Entwicklungen mit, die sie gerade verhindern sollten. Somit trug die Staatssicherheit schließlich selbst zum Einsturz des Systems bei, das sie erhalten wollte. Sie versagte in dem Moment, für den der gesamte pathologisch überdimensionierte Apparat überhaupt geschaffen worden war.
II. Friedliche Revolution
1. Flüchtlingskrise
Bevor die Bürgerbewegung das SED-Regime in der DDR zu Fall brachte, kam die Entwicklung auf anderen Wegen – im wörtlichen Sinne – in Gang: über die Ausreisebewegung und über Ungarn. Das südosteuropäische Land hatte bereits am 2. Mai 1989 begonnen, seine Grenzsperren nach Österreich abzubauen. Dies erschien zunächst weniger sensationell, als es in der Rückschau
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