Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
so schlecht. Dennoch, auch hierbei:
II. Ein unerbittlicher Anstand
Auch mich überrascht dieses Ende. Sie werden mir nicht ausreden können, daß es nicht das wirkliche Ende ist. Daß Ihre Heldin in Wirklichkeit (wenn ich so sagen darf) bei Sir Stephen durchsetzt, sterben zu dürfen. Daß er ihre Eisen erst abnimmt, wenn sie tot ist. Aber es wurde noch nicht alles ausgesprochen, und diese Biene - ich meine Pauline Réage - hat einen Teil ihres Honigs für sich behalten. Wer weiß, vielleicht hat sie, dieses eine Mal, einer Autorenüberlegung nachgegeben: eines Tages die Fortsetzung von Os Abenteuern zu schreiben. Auch ist dieses Ende so naheliegend, daß man es nicht zu schreiben brauchte. Wir finden es mühelos selbst. Wir finden es, und es setzt uns ein bißchen zu. Aber Sie, wie haben Sie es gefunden - und wie lautet die Lösung dieses Abenteuers! Ich muß darauf zurückkommen, weil ich überzeugt bin, daß diese Taburetts und Sprossenbetten und sogar die Ketten, sobald man diese Lösung gefunden hätte, sich von selbst erklärten, daß diese große, geheimnisvolle Gestalt, dieses hintergründige Phantom, sich dann zwischen diesen Dingen bewegen könnte.
Ich muß dabei an all das Unerklärliche, Unerträgliche denken, das die männliche Begierde auszeichnet. Es gibt Steine, in denen der Wind singt, die sich plötzlich bewegen oder anfangen, Seufzer auszustoßen oder Musik zu machen wie eine Mandoline. Die Leute kommen von weither, um sie zu sehen. Dennoch möchte in an zunächst am liebsten die Flucht ergreifen, auch wenn man die Musik noch so sehr liebt. Sollte die Rolle der erotischen (oder wenn Sie so wollen, der gefährlichen) Bücher darin bestehen, uns aufzuklären? Uns dieserhalb zu beruhigen, wie ein Beichtvater es tut? Ich weiß wohl, daß man sich im allgemeinen daran gewöhnt. Und die Männer machen sich auch nicht sehr lange Gedanken deswegen. Sie werden damit fertig, indem sie sagen, daß sie, die Frauen, selbst damit angefangen haben. Sie lügen, und, wenn man so sagen darf, die Beweise dafür liegen auf der Hand: klar, allzu klar.
Auch die Frauen lügen, wird man mir entgegenhalten . Stimmt, aber bei ihnen fällt es nicht so auf. Sie können immer nein sagen. Welcher Anstand! Daher kommt zweifellos auch die Meinung, daß sie das schönere Geschlecht seien, daß die Schönheit weiblich sei. Schöner, davon bin ich nicht überzeugt. Aber zurückhaltender auf jeden Fall, unauffälliger, und auch das ist eine Form der Schönheit. So denke ich nun schon zum zweiten Mol an den Begriff Anstand im Zusammenhang mit einem Buch, in dem davon kaum die Rede ist...
Aber stimmt es, daß davon kaum die Rede ist! Ich denke nicht an den faden und verlogenen Anstand, der sich damit begnügt, sich zu verstellen; der vor dem Stein flieht und leugnet, gesehen zu haben, wie er sich bewegte. Hier haben wir eine andere Art von Anstand, unbeugsam und zu Züchtigungen schnell bereit; der das Fleisch zutiefst demütigt, um ihm seine ursprüngliche Unschuld zurückzugeben, es mit Gewalt zurückzuversetzen in die Tage, als die Begierde noch nicht lautgeworden war, der Fels noch nicht gesungen hatte. Ein Anstand, dem man besser nicht ausgeliefert sein sollte. Denn, um ihm Genüge zu tun, müssen Hände auf dem Rücken gefesselt, Knie gespreizt, Leiber ausgespannt, Schweiß und Tränen vergossen werden.
Es sieht aus, als sagte ich grauenvolle Dinge. Mag sein, aber heute ist das Grauen unser tägliches Brot - und vielleicht sind die gefährlichen Bücher nur die Bücher, die uns unserer natürlichen Bedrohung wieder ausliefern. Welcher Liebende wäre nicht entsetzt, wenn er einen Augenblick lang die Tragweite des Schwures ermessen würde, mit dem er sich, keineswegs leichtfertig, für das ganze Leben bindet. Welche Liebende, wenn sie eine Sekunde lang wägte, was die Worte: "ich habe die Liebe nicht gekannt, eh ich dich kennenlernte ... mein Herz hat nie gesprochen, eh ich dich traf" besagen, Worte, die sich ihr auf die Lippen drängen. Oder auch das vernünftigere - vernünftig? -: "Ich möchte mich bestrafen für jede Stunde, die ich ohne dich glücklich war." Jetzt wird sie beim Wort genommen. Jetzt bekommt sie, wenn ich so sagen darf, was sie bestellt hat.
Es fehlt daher nicht an Folterungen in der Geschichte der O.
Es fehlt nicht an Peitschenhieben, es fehlt nicht einmal die Brandmarkung mit glühendem Eisen, garnicht zu reden vom Halsring und der öffentlichen Zurschaustellung. Beinah ebensoviele Foltern, wie es im Leben des
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