Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
gut stehe ihr das Eisen. Aber da er es in Englisch sagte, erhielten die Worte einen leichten Doppelsinn und es war nicht ganz klar, ob er nur das Metall oder auch, und vor allem, Ketten meinte.
Im Restaurant im Souterrain, das ein gewöhnlicher Keller mit gekalkten Wänden war, aber frisch und freundlich, standen wirklich nur vier Tische. Nur an einem davon saßen Gäste, die mit ihrer Mahlzeit schon fast zu Ende waren. An die Wände war in Freskomanier eine gastronomische und bebilderte Karte Italiens gemalt, die Farben glichen den Farben von Eissorten, Vanille, Himbeer, Pistazien; O dachte daran, daß sie sich zum Nachtisch Eis bestellen wollte, mit zerstoßenen gebrannten Mandeln und crème fraîche. Denn sie fühlte sich glücklich und leicht, Renés Knie berührte unter dem Tisch ihr Knie, und wenn er sprach, so wußte sie, daß er für sie sprach. Auch er betrachtete ihre Lippen. Sie bekam ihr Eis, aber keinen Kaffee. Sir Stephen lud O und René zum Mokka zu sich ein. Sie hatten alle drei sehr leicht gegessen und O hatte bemerkt, daß die beiden Männer absichtlich wenig tranken und ihr selbst noch weniger zu trinken gaben: eine Flasche Chianti für drei Personen. Auch hatten sie schnell gegessen: es war kaum neun Uhr. "Ich habe den Chauffeur weggeschickt, sagte Sir Stephen, würden Sie bitte chauffieren, René. Es ist am einfachsten, wenn wir direkt zu mir fahren." René setzte sich ans Steuer, O neben ihn, Sir Stephen neben O. Der Wagen war ein riesiger Buick, sie hatten auf dem Vordersitz bequem zu dritt Platz.
Es ging über die Alma-Brücke, den Cours de la Reine, der hell war, weil die Bäume kein Laub trugen, den Place de la Concorde, flimmernd und trocken unter dem düsteren Winterhimmel, der voll Schnee hing. O hörte ein leises Klicken und spürte die warme Luft an ihren Beinen entlangstreichen: Sir Stephen hatte die Heizung eingeschaltet. René folgte noch immer der Seine auf dem rechten Ufer, bog dann zum Pont Royal ein, um aufs linke Ufer zu kommen: zwischen den steinernen Zwingen wirkte das Wasser unbeweglich, selbst wie Stein, und ganz schwarz. O dachte an schwarze Hämatiten. Als sie fünfzehn Jahre alt war, trug ihre beste Freundin, die dreißig und in O verliebt war, einen Ring mit einem brillantengefaßten Hämatiten. O hatte sich ein Kollier aus diesen schwarzen Steinen und ohne Brillanten gewünscht, ein Kollier, das eng am Hals anlag, den Hals einschnürte. Aber hätte sie die Halsbänder, die man ihr jetzt schenkte - nein, man schenkte sie ihr nicht - eingetauscht für das Kollier aus Hämatiten, für die Hämatiten ihrer Träume? Sie sah das schäbige Zimmer wieder, hinter dem Carrefour Turbigo, wohin Marion sie geführt hatte, und wie sie selbst, nicht Marion, ihre beiden dicken Schulmädchenzöpfe löste, als Marion sie entkleidet und auf das Eisenbett gelegt hatte. Sie war schön, Marion, wenn man sie streichelte und es stimmt, daß Augen zu Sternen werden können; die ihren wurden zu blauen, zuckenden Sternen. René stoppte den Wagen. O kannte die kleine Straße nicht, es war eine der Verbindungsstraßen zwischen der Rue de l'Université und der Rue de Lille.
Sir Stephens Wohnung lag in einem Vorhof, im Flügel eines ehemaligen Palais, und die Zimmer waren in einer Flucht angelegt. Das Zimmer am Ende war auch das größte und gemütlichste, es war im englischen Stil eingerichtet, dunkle Mahagonimöbel und blasse Seiden, gelb und grau. "Sie brauchen sich nicht um das Feuer zu kümmern, sagte Sir Stephen zu O, aber dieses Sofa ist für Sie. Nehmen Sie bitte Platz, René wird den Kaffee machen, ich möchte Sie nur bitten, mir zuzuhören." Das große damastbezogene Sofa stand rechtwinklig zum Kamin, mit der Vorderseite zu den Fenstern, die auf einen Garten blickten, mit dem Rücken zu den Fenstern, die auf der anderen Seite des Zimmers zum Hof gingen. O zog ihren Pelz aus und legte ihn auf die Rückenlehne des Sofas. Als sie sich umdrehte, sah sie ihren Geliebten und ihren Gastgeber im Stehen warten, daß sie Sir Stephens Aufforderung Folge leiste. Sie legte ihre Tasche zu dem Pelz, zog die Handschuhe aus. Wann würde sie endlich lernen, falls sie es überhaupt jemals lernen würde, beim Hinsetzen ihre Röcke mit einer so beiläufigen Geste zu raffen, daß es niemandem auffiele und daß sie selbst nicht an ihr Nacktsein, an ihr Ausgeliefertsein denken müßte? Jedenfalls nicht, solange René und dieser Fremde sie schweigend anstarrten, wie sie es jetzt taten. Schließlich fügte sie sich.
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