Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
heißt... Und wirklich, Jacqueline raffte das Kleid mit beiden Händen, um von dem Podium herunterzusteigen, auf dem sie eine Viertelstunde lang posiert hatte. Das gleiche Knistern, das gleiche Rascheln wie welkes Laub. Kein Mensch trägt Galaroben? Oh doch. Auch Jacqueline trug ein enganliegendes Goldkollier um den Hals, zwei goldene Armbänder um die Gelenke. O ertappte sich bei dem Gedanken, daß sie noch schöner sein würde mit dem Lederhalsband, mit ledernen Armspangen. Und dieses Mal tat sie etwas, was sie noch nie getan hatte: sie folgte Jacqueline in die große Garderobe neben dem Studio, wo die Mannequins sich ankleideten und schminkten und ihre Kleider und Schminkutensilien zurückließen, wenn sie nachhause gingen. Sie blieb an die Türfüllung gelehnt stehen, den Blick auf den Frisierspiegel gerichtet, vor dem Jacqueline noch immer in ihrer Robe saß. Der Spiegel war so groß - er bedeckte die ganze Wand und der Frisiertisch war nur eine einfache, schwarze Glasplatte - daß sie zugleich Jacqueline und ihr eigenes Spiegelbild sah und das Spiegelbild der Garderobiere, die den Reiherschmuck und das Tüllnetz abnahm. Jacqueline löste selbst das Halsband, ihre nackten Arme waren erhoben wie zwei Henkel; ein Schweißfilm glänzte in ihren Achselhöhlen, die epiliert waren (warum? sagte O sich, wie schade, sie ist so blond) und O nahm den herben und zarten, ein wenig pflanzenhaften Geruch wahr und fragte sich, welches Parfüm Jacqueline wohl trage - welches Parfüm man Jacqueline tragen lassen sollte. Dann nahm Jacqueline ihre Armreifen ab, legte sie auf die Glasplatte, wo sie eine Sekunde lang klirrten, wie Ketten. Ihr Haar war so hell, daß die Haut, getönt wie der feine Sand an einem Strand, von dem die Flut sich gerade zurückgezogen hat, dagegen dunkler wirkte. Auf dem Photo würde die rote Seide schwarz sein. Genau in diesem Augenblick hoben sich die dichten Wimpern, die Jacqueline nur ungern tuschte, und O begegnete im Spiegel einem so direkten, so unverwandten Blick, daß sie nicht fähig war, die Augen abzuwenden und spürte, wie sie langsam errötete. Das war alles. "Entschuldigen Sie", sagte Jacqueline, "ich muß mich umziehen." "Verzeihung", murmelte O und schloß die Tür hinter sich. Am nächsten Tag nahm sie die Probeabzüge der Aufnahmen, die sie gemacht hatte, mit nach Hause, sie wußte selbst nicht, ob sie die Bilder ihrem Geliebten, mit dem sie auswärts essen sollte, zeigen wollte oder nicht. Während sie sich vor der Frisiertoilette ihres Schlafzimmers schminkte, betrachtete sie die Aufnahmen und unterbrach sich, um mit dem Finger die Linie einer Braue, die Spur eines Lächelns nachzuziehen. Aber als sie den Schlüssel in der Tür hörte, ließ sie die Bilder in die Schublade gleiten.
O hatte seit zwei Wochen eine vollständig neue Garderobe und hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, als sie eines Abends bei ihrer Heimkehr aus dem Studio eine Nachricht ihres Geliebten vorfand, der sie bat, um acht Uhr bereit zu sein, weil sie mit ihm und einem seiner Freunde essen solle. Ein Wagen werde sie abholen, der Chauffeur werde in die Wohnung kommen. Ein Zusatz bestimmte, sie solle ihre Pelzjacke mitnehmen, sich ganz in Schwarz kleiden (ganz war unterstrichen) und darauf achten, daß sie genauso geschminkt und parfümiert sei wie in Roissy. Es war sechs Uhr, ganz in Schwarz und zum Abendessen - und es war Mitte Dezember, es war kalt - das bedeutet schwarze Seidenstrümpfe, schwarze Handschuhe, und zu ihrem fächerförmig plissierten Rock entweder einen dicken Pullover mit Paillettenstickerei oder ihre Failleweste. Sie wählte die Failleweste. Sie war wattiert und mit großen Stichen abgesteppt, vom Hals bis zur Taille anliegend und mit Agraffen geschlossen, wie die Wämser der Männer im sechzehnten Jahrhundert, und die Brust war durch einen eingearbeiteten Büstenhalter deutlich abgezeichnet. Das Futter war aus dem gleichen Faille, und die kurzen Schöße endeten an der Hüfte. Der einzige Putz waren die großen, vergoldeten Agraffen, so auffallend wie die Schnallen an den Schneestiefeln der Kinder, die sich klickend über breiten, flachen Ösen öffnen und schließen. O legte ihre Kleider zurecht, stellte die schwarzen Wildlederpumps mit der überhöhten Sohle und den Bleistiftabsätzen vor das Bett, und kam sich dann höchst wunderlich vor, als sie sich nach dem Bad, frei und allein in ihrem Badezimmer, sorgfältig schminkte und parfümierte, genau wie in Roissy. Gewöhnlich benutzte sie
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