Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
Lächelns, noch nie hatte O sie so vor René gesehen. Das Lächeln, das O für den Bruchteil einer Sekunde über ihre Lippen zucken sah, als sie sich vorbeugte, um ihr Glas mit Eiswasser abzustellen und ihre Blicke sich kreuzten, bewies, daß Jacqueline sich durchschaut wußte. Sie nahm es gelassen hin, O dagegen errötete. "Ist dir zu heiß?" sagte Jacqueline. "Wir gehen in fünf Minuten. Im übrigen steht es dir sehr gut." Dann lächelte sie wieder, und sah dabei mit so zärtlicher Hingabe ihren Tischnachbarn an, daß man glaubte, er müsse einfach aufspringen und sie küssen. Aber nein. Er war zu jung um zu wissen, wieviel Schamlosigkeit sich in Ruhe und Schweigen ausdrücken kann. Er ließ Jacqueline aufstehen, ihm die Hand reichen und sich verabschieden. Sie würde ihn anrufen. Dann verabschiedete er sich von dem Schatten der O für ihn war, und blieb auf dem Trottoir stehen, bis der schwarze Buick auf der Straße zwischen den sonnendurchglühten Häusern und dem viel zu blauen Meer davongeglitten war. Die Palmen wirkten wie aus Blech gestanzt, die Spaziergänger wie halb geschmolzene Wachspuppen, die ein absurder Mechanismus in Bewegung hält. "Gefällt er dir so gut?" sagte O zu Jacqueline, als der Wagen aus der Stadt fuhr und in die obere Corniche einbog. "Geht dich das etwas an?" erwiderte Jacqueline. "Es geht René an, erwiderte O. Was René sonst noch angeht und Sir Stephen, außerdem ein paar andere Männer, wenn ich recht verstanden habe, fuhr Jacqueline fort, ist die Tatsache, daß du nicht richtig dasitzt. Du wirst dein Kleid verknittern." O rührte sich nicht. "Und ich habe geglaubt, sagte Jacqueline weiter, daß du auch niemals die Beine überschlagen darfst?" Aber O hörte nicht mehr zu. Was bedeuteten ihr Jacquelines Drohungen? Bildete Jacqueline sich ein, ihre Drohung, dieses kleine Vergehen zu verraten, könnte O daran hindern, sie bei René anzuschwärzen? Nicht, daß O keine Lust dazu gehabt hätte. Doch René würde den Gedanken nicht ertragen, daß Jacqueline ihn belog und daß sie frei über sich selbst verfügen wollte. Wie konnte sie Jacqueline beibringen, daß sie nur deshalb schweigen würde, damit sie nicht sehen müßte, wie René das Gesicht verlor, erbleichte um einer anderen willen, und vielleicht schwach genug war, sie nicht zu bestrafen? Und auch und vor allem, weil sie fürchtete, daß Renés Zorn sich gegen sie selbst richten könne, die Unglücksbotin, die Verräterin. Wie konnte sie Jacqueline sagen, daß sie schweigen werde, ohne daß es nach einem Handel aussehen würde, gibst du mir, so geb' ich dir? Denn Jacqueline glaubte, O habe schreckliche Angst, eine Angst, die sie zu Eis erstarren ließ, vor dem, was ihr widerfahren würde, wenn Jacqueline sprechen sollte. Als sie im Hof des alten Hauses aus dem Wagen stiegen, hatten sie noch immer kein Wort miteinander gesprochen. Jacqueline pflückte, ohne O anzusehen, einen weißen Geranienstengel von der Rabatte vor dem Haus. O ging so dicht hinter ihr, daß sie den zarten und kräftigen Duft des Blattes roch, das Jacqueline zwischen den Händen zerrieb. Glaubte sie, damit den Geruch ihres eigenen Schweißes verdecken zu können, der das Gewebe ihres Pullovers unter den Achseln kleben und noch schwärzer erscheinen ließ? In der großen rotgefliesten und weißgekalkten Halle war René allein. "Ihr kommt spät, sagte er, als sie eintraten. Sir Stephen erwartet dich nebenan, fuhr er zu O gewandt fort, er braucht dich, er ist sehr ärgerlich." Jacqueline lachte laut und O schaute sie an und errötete. "Ihr hättet euch eine andere Zeit aussuchen können", sagte René, der Jacquelines Lachen und Os Verwirrung falsch auslegte. "Nein, nicht das, sagte Jacqueline, aber du weißt nicht, René, daß eure schöne Folgsame gar nicht so folgsam ist, wenn ihr nicht dabei seid. Schau ihr Kleid an, wie es verknittert ist." O stand mitten im Zimmer, vor René. Er sagte, sie sollte sich umdrehen, sie konnte sich nicht bewegen. "Und sie schlägt die Beine über, fuhr Jacqueline fort, aber das könnt ihr natürlich nicht feststellen. Auch nicht, daß sie sich junge Männer anlacht. - Das ist nicht wahr", schrie O, "das tust nur du!" und sie stürzte sich auf Jacqueline. René hielt sie fest, als wollte sie Jacqueline schlagen und sie wehrte sich in seinen Händen nur um des Vergnügens willen, sich als die Schwächere zu fühlen, ihm ausgeliefert. Als sie den Kopf hob, sah sie Sir Stephen unter der Tür stehen. Jacqueline hatte sich aufs Sofa
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