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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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in den Kirchen Ehrenplätze einzunehmen; überall in der Öffentlichkeit hatten die Adligen Vortritt vor Angehörigen des Dritten Standes. Der Adel verfügte nach wie vor über einen eigenen Gerichtsstand, mußte sich also nicht denselben Richtern stellen wie das gemeine Volk. Tocqueville hat den französischen Adel eine vom Volk gänzlich isolierte Kaste genannt, «scheinbar zwar die Spitze der Armee …, in Wahrheit aber nur ein Offizierskorps ohne Soldaten». Was der Adel an Privilegien und Prestige in Anspruch nahm, stand in der Tat in krassem Widerspruch zu dem, was er für die Gesellschaft leistete. Es war dieser Widerspruch, der die öffentliche Meinung Frankreichs gegen Ende des Ancien régime in einer Weise gegen den «Feudalismus» aufbrachte, die in Europa ihresgleichen suchte.
    Der Dritte Stand hatte in der Tat allen Grund, über seine Benachteiligung empört zu sein, aber nicht in allen seinen Teilen in gleichem Maß. Die Bourgeoisie, ein kleiner, aber der bei weitem mächtigste Teil dieses Standes, war von früheren absolutistischen Herrschern, obenan Ludwig XIV., systematisch umworben worden. Mehr als alle anderen gesellschaftlichen Gruppen hatte sie aus dem Merkantilismus, der gezielten Förderung des Außenhandels, des Verlags- und Manufakturwesens, Nutzen gezogen und ihrerseits dem Staat durch hohe Steuerleistungen Nutzen gebracht. Wirtschaftlich hatte das industrielle und kommerzielle Großbürgertum dem Adel längst den Rang abgelaufen und genoß inzwischen selbst zahlreiche Privilegien. Viele wohlhabenden Bürger waren Grundbesitzer geworden und pflegten häufig, besonders wenn sie einen Adelsbrief erlangt hatten, einen seigneuralen Lebensstil. Als Rentiers lebten sie ganz von den Erträgen, die ihr Kapital und ihre Güter abwarfen.
    Die Speerspitze des bürgerlichen Protestes gegen die Mißstände des Ancien régime war daher nicht die in sich vielfach gespaltene besitzende Bourgeoisie. Die antifeudale und antiabsolutistische Opposition wurde angeführt von Intellektuellen und Angehörigen freier akademischer Berufe, namentlich von Rechtsanwälten und Notaren. Dazu kamen Pfarrer, die ihrem Stand den Rücken gekehrt hatten. Sie alle machten sich zu Sprechern des Dritten Standes in seiner Gesamtheit und damit auch der Handwerker und kleinen Geschäftsleute, der Arbeiter, der Bauern und Tagelöhner.
    Unter den Bauern waren die Leibeigenen, die zu dinglichen Lasten verpflichteten Erbuntertanen der Gutsherren, eine Minderheit. Eine andere Minderheit bestand aus Großbauern, die von den Erträgen aus eigenem oder gepachtetem Grundbesitz lebten. Sehr viel größer war die Zahl der landarmen Kleinbauern und der landlosen Tagelöhner. Sie vor allem hatten die erhöhten Lasten zu tragen, die die adligen Seigneurs oder ihre bürgerlichen Pächter in den achtziger Jahren den von ihnen abhängigen Landbewohnern auferlegten. Eine Gegenwehr mit den Mitteln des Rechts war aussichtslos, weil der adlige Gutsbesitzer auch der Gerichtsherr in seinen Besitzungen war.
    Die Verbitterung auf dem Land stieg in dem Maß, wie die wirtschaftliche Lage sich verschlechterte und der Druck seitens der Grundherren und Pächter zunahm. Auf dem Land lebten Ende der 1780er Jahre noch etwa 85 von 100 Franzosen. Im Frühjahr 1789 hatte sich die Wut der Bauern nur in einigen von der Hungersnot besonders hart betroffenen Gebieten gewaltsam entladen. Wenn sich jedoch die Mehrheit der Bauern gegen die bestehenden Verhältnisse auflehnte, war die Vorherrschaft der privilegierten Stände nicht mehr zu halten.[ 182 ]
    Unternehmer und Arbeiter, Stadtbürger und Bauern hatten durchaus unterschiedliche Interessen. Gemeinsam war ihnen, daß sie im Gegensatz zu Klerus und Adel nicht zu den privilegierten Ständen gehörten. Diese Gemeinsamkeit scharf herauszuarbeiten und das Trennende zurückzustellen: darauf mußte es den Wortführern des bürgerlichen Protestes im Jahre 1789 ankommen. Der Mann, der dies vor der Einberufung der Generalstände in klassischer Form tat, war der Abbé Sieyès. In seiner Streitschrift «Was ist der Dritte Stand?» stellte er drei knappe Fragen, auf die er vorweg drei knappe Antworten gab: «Was ist der Dritte Stand? Alles. Was ist er bis jetzt in der staatlichen Ordnung gewesen? Nichts. Was verlangt er? Etwas darin zu werden.»
    Sieyès bezeichnete den Dritten Stand als eine vollständige Nation, setzte also das Interesse dieses Standes mit dem Frankreichs gleich. Er begründete dies damit, daß nur der Dritte

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