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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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deren Kreisen viele der Erfinder und frühen industriellen Unternehmer kamen. Es gab gut ausgebildete Heimarbeiter im «protoindustriellen» Verlagssystem, namentlich in der Textil- und Metallwarenbranche, und qualifizierte Fachkräfte in Handwerk und Manufakturbetrieben. Infolge der demographischen und der agrarischen Revolution existierte zudem ein großes Reservoir an Menschen, die in der Landwirtschaft und im traditionellen städtischen Gewerbe keine gewinnbringende Beschäftigung mehr fanden. Aus ihnen wie aus eingewanderten Iren rekrutierte sich die Masse der ungelernten Fabrikarbeiter, des frühindustriellen Proletariats.[ 185 ]
    Neben den materiellen gab es in England immaterielle Rahmenbedingungen der Industriellen Revolution, wie sie im späten 18. Jahrhundert sonst fast nirgendwo in Europa bestanden. Seit der Glorious Revolution von 1688 hatte sich auf der Insel die «rule of law» gefestigt und mit ihr die Sicherheit des privaten Eigentums. Der Staat stand der Gesellschaft nicht gegenüber, sondern repräsentierte sie – genauer gesagt: ihren besitzenden Teil. An Schulen und Universitäten konnte sich wissenschaftliche und technische Neugier frei entfalten: eine wesentliche Voraussetzung des Siegeszugs der Erfindungen. Kritik konnte etwas bewirken, und das legte es den Kritikern nahe, möglichst konkret und in Abwägung möglicher Folgen zu argumentieren. Der englische, besser: englisch-schottische, Denkstil war weniger abstrakt als der französische und weniger spekulativ als der deutsche. Er war praxisbezogen, pragmatisch, empirisch. Das prägte die Geistes-, die Sozial- und die Naturwissenschaften.
    Der Geist des Wettbewerbs und des Strebens nach Glück gehörte zur britischen Kultur. Der schottische Philosoph und Ökonom Adam Smith fand dieses geistige Klima bereits vor, als er 1776, im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, seine «Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Wohlstands der Nationen» veröffentlichte. Seine Lehre, daß das Gesamtinteresse einer Volkswirtschaft durch nichts so gefördert werde wie durch die Verfolgung des eigenen wirtschaftlichen Vorteils durch die Einzelnen, war für die britische Gesellschaft weniger revolutionär als für Länder, in denen weite Kreise und nicht zuletzt die Kirchen privates Gewinnstreben noch als etwas moralisch Anrüchiges und die Regierungen die merkantilistische Steuerung der Wirtschaft als ein Gebot der Staatsräson betrachteten.
    Smith’ Forderung nach Gewerbefreiheit war in England und Schottland in höherem Maß verwirklicht als irgendwo auf dem Kontinent; von seiner Forderung nach Freihandel zwischen den Nationen hingegen konnte man dies nicht sagen. Die Einsicht des Autors, daß Nationen gut beraten waren, wenn sie nichts erzeugten, was anderswo preisgünstiger hergestellt werden konnte, war nichts anderes als die Übertragung der Lehre von der Zweckmäßigkeit fortschreitender gesellschaftlicher Arbeitsteilung auf die Weltwirtschaft. Diese Erkenntnis benötigte auch im Ursprungsland der Industriellen Revolution noch viel Zeit, um sich durchzusetzen: Die Kornzölle, die den Interessen der «landed aristocracy» dienten, wurden erst nach heftigen innenpolitischen Kämpfen 1846 aufgehoben. Wenig Zustimmung fand zunächst auch Smith’ scharfe Ablehnung kolonialer Handelsmonopole, ja von Kolonien überhaupt: Englands Weltgeltung beruhte auch darauf, daß es sich bis zum Auslaufen der Industriellen Revolution die reine Lehre des wirtschaftlichen Liberalismus nicht konsequent zu eigen machte. Da Smith 1790 starb, erlebte er auch nicht mehr die Verwirklichung seiner Forderung nach Abschaffung der Sklaverei – einer Forderung, die er damit begründete, daß Sklavenarbeit die Gesellschaft letztlich immer teurer zu stehen komme als die von freien Menschen geleistete Arbeit.[ 186 ]
    Zu den immateriellen Rahmenbedingungen der Industriellen Revolution in Großbritannien gehörten schließlich auch solche religiöser oder, genauer, religionssoziologischer Art. Von Max Webers These einer Wahlverwandtschaft zwischen der calvinistischen Ethik und dem «Geist des Kapitalismus» war bereits die Rede. Sie besagt im Kern, daß strenge Calvinisten dazu neigten, in wirtschaftlicher Leistung eine Bestätigung der eigenen Auserwähltheit durch Gott zu sehen, und sich eben darum in jener «innerweltlichen Askese» übten, ohne die erfolgreiches Unternehmertum nicht möglich war. Stark war diese Überzeugung vor allem bei den calvinistischen

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