Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Gruppen, die von akademischen Studien und öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, also von Staats wegen diskriminiert waren: bei Nonkonformisten oder Dissenters. Unternehmer, die aus ihren Reihen stammten, fanden in den freikirchlichen Gemeinden den Rückhalt und die Anerkennung, die ihnen Staat und Gesellschaft versagten. In diesem Sinne liefert Webers These tatsächlich eine Teilerklärung sowohl der wirtschaftlichen Umwälzung, von der Großbritannien im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erfaßt wurde, wie der «industrious revolution», die ihr vorausging.[ 187 ]
Im Jahre 1960 hat der amerikanische Wirtschaftshistoriker Walt W. Rostow in seinem Buch «Stadien des wirtschaftlichen Wachstums» den Durchbruch zur industriellen Produktionsweise mit dem «Take-off» eines Flugzeugs verglichen. Bezeichnend für die «Take-off»-Phase der Industrialisierung war Rostow zufolge eine Steigerung produktiver Investitionen von 5 Prozent (oder weniger) auf 10 Prozent (oder mehr) des Volkseinkommens.[ 188 ]
Eine solche explosionsartige Zunahme der Investitionen, einen derart unvermittelten Wechsel von einem flachen zu einem steilen Wirtschaftswachstum, hat es in Großbritannien in dem von Rostow genannten Zeitraum, den Jahren 1783 bis 1802, nicht gegeben. Die neuere Forschung betont die lange Vorgeschichte und die lange Dauer des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft im Mutterland der Industriellen Revolution. Der industrielle Sektor und die Volkswirtschaft im ganzen wuchsen deutlich langsamer, als Rostow angenommen hatte. Dramatisch aber war die Zunahme der britischen Bevölkerung: Sie wuchs zwischen 1750 und 1800 um etwa 50 Prozent und verdoppelte sich danach alle fünfzig Jahre. ähnlich hohe und teilweise noch höhere Wachstumsraten gab es in den kontinentaleuropäischen Ländern, die sich im 19. Jahrhundert industrialisierten.[ 189 ]
Die Zeit der Industrialisierung war eine Zeit des Massenelends und der rücksichtslosen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft: so schrecklich, wie Friedrich Engels sie 1845 in seiner Schrift «Die Lage der arbeitenden Klasse in England» beschrieben hat.[ 190 ] Ohne ausgedehnte Kinderarbeit in Bergwerken und Fabriken hätten zahllose Arbeiterfamilien ihr armseliges Leben nicht fristen können. Aber das Elend wäre ungleich größer gewesen, hätte es die Möglichkeit industrieller Arbeit nicht gegeben. Die Industrialisierung führte nicht zur fortschreitenden Verelendung, sondern zum sozialen Aufstieg des Proletariats. Die Realeinkommen der Arbeiterfamilien wiesen in allen Industriegesellschaften des Westens über längere Zeiträume hinweg steigende Tendenzen auf. Dazu trugen die Interessenvertretungen der Arbeiter, die Gewerkschaften, entscheidend bei. Die Vorhersage des britischen Nationalökonomen Thomas Robert Malthus aus dem Jahre 1789, das Wachstum der Nahrungsmittel werde immer hinter dem Wachstum der Bevölkerung zurückbleiben, erfüllte sich ebensowenig wie die rund sechs Jahrzehnte später aufgestellte Prognose von Karl Marx, die Löhne der Arbeiter würden im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung unter das Existenzminimum sinken.[ 191 ]
In der Weltgeschichte gibt es wohl nur eine gesellschaftliche Umwälzung, die einen derart tief einschneidenden, alle Lebensbereiche verändernden Charakter hatte wie die Industrielle Revolution: Es war der Übergang von den Jägerkulturen zu seßhaften bäuerlichen Gesellschaften in der jüngeren Steinzeit, dem Neolithikum, vor etwa 10.000 Jahren.[ 192 ] England war mit seiner Industrialisierung dem übrigen Europa vorausgeeilt, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis der technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel auch den Kontinent erreichen würde. Großbritannien verfügte über ein politisches System, das sich als elastisch genug erwies, die Industrielle Revolution und ihre Folgen zu bewältigen. Die absolutistischen Monarchien und ständisch verfaßten Gesellschaften auf der anderen Seite des Ärmelkanals wären dazu nicht in der Lage gewesen. Sie mußten sich grundlegend verändern, wenn sie die Herausforderungen der neuen Zeit meistern wollten: Soviel ließ sich im späten 18. Jahrhundert unschwer vorhersagen.
Politische Umwälzung: Die Amerikanische Revolution
Zum Wohlstand Englands trugen auch jene Untertanen der Könige aus dem Hause Hannover bei, die auf der anderen Seite des Atlantiks lebten. Die «Pilgerväter», die 1620 mit der «Mayflower» den Ozean überquerten und die Kolonie New Plymouth an
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