Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
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Unterdrückung und Wandel: Die großen Mächte nach 1815
Die Ziele der Restauration, die 1814/15 mit der zweimaligen Wiedereinführung der Bourbonenherrschaft in Frankreich begann, waren zwischen ihren Befürwortern höchst umstritten. Für die äußerste französische Rechte, die Ultra-Royalisten, kurz «Ultras» genannt, ging es darum, den Normalzustand, der mit der Revolution von 1789 jäh unterbrochen worden war, zügig wiederherzustellen. Dieser Rückkehr sollte jedoch nach der beruhigenden Versicherung des royalistischen Emigranten Joseph de Maistre in seinen «Considérations sur la France» von 1797 nichts Anormales anhaften: «Die Wiederherstellung der Monarchie, die man Gegenrevolution nennt, wird nicht eine Revolution in der entgegengesetzten Richtung, sondern das Gegenteil einer Revolution sein.» (Le rétablissement de la monarchie, qu’on appelle contre-révolution, ne sera point une révolution contraire, mais le contraire d’une révolution.)
Die gemäßigten Kräfte von Talleyrand bis Constant wußten hingegen, daß das «Alte» im Sinne des Ancien régime nicht wiederherstellbar war. Wenn die Restauration der Monarchie nicht über kurz oder lang zu einer neuen Revolution führen sollte, mußte sie wesentliche Gedanken der Revolution von 1789 aufgreifen. Eine auf Dauer angelegte Politik kam nach ihrer Überzeugung nicht umhin, die Rechte des Individuums, die Freiheit der Presse, die Unabhängigkeit der Richter sicherzustellen und auf die öffentliche Meinung Rücksicht zu nehmen. Die «Charte constitutionelle» von 1814 entsprach sehr viel mehr den Vorstellungen der Liberalen als denen der Ultras.
Bei den Kammerwahlen vom August 1815 erlangten aber die Royalisten dank des hohen Zensus, der den Großgrundbesitz begünstigte, ein klares Übergewicht. Ihr Sieg führte zu umfassenden Säuberungen unter Präfekten und Unterpräfekten der Departements, zur Verurteilung und Hinrichtung von Heerführern, die sich in den «Hundert Tagen» Napoleon angeschlossen hatten, unter ihnen des Marschalls Ney, und zu royalistischen Massakern in Südfrankreich. Die Mehrheit der Ultras in der «Chambre introuvable», der unauffindbaren Kammer, wie Ludwig XVIII. sie nannte, war so überwältigend, daß nun auch Royalisten wie Chateaubriand den Übergang zur politischen Ministerverantwortlichkeit, also zur parlamentarischen Monarchie, forderten.
Bei Neuwahlen im September und Oktober 1816 setzten sich die «konstitutionellen», von der Regierung des Herzogs von Richelieu und teilweise auch von den Liberalen unterstützten gemäßigten Kandidaten durch. Im Oktober 1818 gelang es Richelieu auf dem ersten Kongreß der Pentarchie in Aachen, gegen die Zahlung einer letzten Rate der Kriegsentschädigung die vollständige Räumung des Landes von Besatzungstruppen durchzusetzen, womit Frankreich auch formell seinen Großmachtstatus wiedererlangte. Bei weiteren Teilwahlen im Oktober 1819 (nach der Charte von 1814 wurde jährlich ein Fünftel der Abgeordneten neu gewählt) zogen erstmals auch linke Liberale, die den Ideen von Constant verpflichtet waren, unter ihnen der nunmehr zweiundsechzigjährige Lafayette, in die Kammer ein.
Unter dem Einfluß des Grafen von Decazes, der im Dezember 1818 zunächst das Amt des Innen- und Polizeiministers, ein Jahr darauf das des Ministerpräsidenten übernahm, begann sich seit Ende 1818 auch die Regierung liberalen Positionen anzunähern. Ihre Hauptstütze waren dabei die sogenannten «Doktrinäre», die Liberalen um François Guizot und Pierre Paul Royer-Collard, die einen dritten Weg zwischen den Lehren von der Volkssouveränität und der Souveränität des Königs propagierten: Sie vertraten die Auffassung, daß alle Gewalt ihren Ursprung in der Verfassung, der Charte, habe und souverän allein die Vernunft sei. Ganz im Sinne der «Doktrinäre» waren die wichtigsten Initiativen Decazes’: eine Reihe von liberalen Pressegesetzen, ein umfassendes Revirement unter Präfekten und Unterpräfekten und die Vorbereitung einer Verwaltungsreform, die der wahlberechtigten Bevölkerung die Kontrolle der Finanzen von Departements und Kommunen bringen sollte.
Unter der Regierung Decazes hätte sich die restaurierte Bourbonenmonarchie wohl noch stärker in Richtung Liberalismus entwickelt, wäre nicht am 14. Februar 1820 der Herzog von Berry, der jüngere Sohn des Grafen von Artois, des ultraroyalistischen Bruders Ludwigs XVIII. und späteren Königs Karl X., von einem bonapartistischen
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