Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
das war die Ironie der Geschichte, nicht auf der Linie der bisherigen Berliner Politik gelegen. Sie entsprang dem britischen Wunsch, Frankreich von einem neuen Anlauf in Richtung Rheingrenze und damit der kontinentalen Hegemonie abzuhalten. Daß das Londoner Streben nach Gleichgewicht eine Bewegung in Gang setzen könnte, die zuerst auf die preußische Hegemonie in Deutschland und dann auf die deutsche Hegemonie in Europa zielte: Diese Erwägung lag jenseits der Vorstellungskraft der Akteure von 1814/15.
Österreich hatte zwar den Vorsitz in der Bundesversammlung inne. Doch seit es sich aus dem Südwesten Deutschlands und aus Belgien hatte zurückziehen müssen, war sein Machtvorsprung gegenüber dem Rivalen Preußen geschrumpft. Auf der Apenninenhalbinsel zu gewinnen, was es in Mitteleuropa verloren hatte: das war für Österreich unmöglich. Denn anders als in Deutschland wurde die regionale Hegemonie der Habsburgermonarchie in Italien als Fremdherrschaft empfunden. Napoleon, der gebürtige Korse, hatte mit der Schaffung des Königreichs Italien die Sehnsucht nach nationaler Einheit geweckt. Die Erinnerung an ihn war daher in Italien sehr viel freundlicher als in Deutschland. Einen Napoleon-Mythos brauchte Österreich in Deutschland nicht zu fürchten, in Italien sehr wohl.
Das Werk des Wiener Kongresses schuf die Grundlagen der Restaurationszeit: Das ist aus guten Gründen noch immer die überwiegende Auffassung der Geschichtsschreibung. Doch zumindest in einem Punkt darf man den Friedensstiftern auch einen Dienst an der Freiheit bescheinigen. Auf britisches Drängen beschloß der Kongreß am 8. Februar 1815 eine feierliche Erklärung gegen den Sklavenhandel. Frankreich hatte zunächst eine möglichst lange Frist für das Wirksamwerden eines entsprechenden Verbots zu erreichen versucht. Nachdem jedoch Napoleon in den «Hundert Tagen» die sofortige Abschaffung des Sklavenhandels für die französischen Untertanen und Kolonien verfügt hatte, sah sich Ludwig XVIII. genötigt, das Verbot zu bestätigen.
Für den Augenblick verpflichtete die Erklärung der Hauptmächte des Wiener Kongresses keine Kolonialmacht, den Sklavenhandel zu unterbinden. Die moralische Wirkung des Beschlusses aber war erheblich. Das widerstrebende Portugal hatte sich unter britischem Druck schon im Januar 1815 auf die Beendigung des Sklavenhandels nördlich des Äquators festgelegt. Spanien tat diesen Schritt zwei Jahre später und versprach die völlige Abschaffung des Sklavenhandels bis zum Jahr 1820 – eine Zusage, die jedoch in der Folgezeit nicht eingehalten wurde. Die Abschaffung des offiziellen portugiesischen Sklavenhandels setzte England 1842 durch (ohne damit den illegalen Sklavenhandel verhindern zu können). Gegen Brasilien mußte Großbritannien 1850 eine Seeblockade verhängen und militärische Gewalt anwenden, um dem Sklavenhandel ein Ende zu bereiten. Am längsten dauerte der spanische Sklavenhandel mit seiner Kolonie Kuba. Er wurde erst 1866 unter massivem britischen und amerikanischen Druck durch ein wirksames spanisches Gesetz unterbunden. Insgesamt dürften nach einer realistischen Schätzung zwischen 1500 und den 1860er Jahren 11,8 Millionen Menschen aus Afrika die Zwangsreise nach Amerika angetreten haben, von denen wegen der furchtbaren Bedingungen an Bord der überfüllten Sklavenschiffe 10 bis 20 Prozent die «middle passage», den Transport über den Atlantik, nicht überlebten.
Die Abschaffung des Sklavenhandels bedeutete noch nicht die Abschaffung der Sklaverei. Großbritannien zog diese Konsequenz für seine Kolonien erst 1833, die anderen europäischen Mächte taten es noch später: Frankreich und Dänemark 1848, die Niederlande 1863. Zwei Jahre später endete der amerikanische Bürgerkrieg mit einem Sieg der Nordstaaten, was das Ende der Sklaverei in den Vereinigten Staaten zur Folge hatte. In den meisten ehemaligen spanischen Kolonien wurde die Sklaverei nach Erkämpfung der Unabhängigkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im ehedem portugiesischen Brasilien, das von allen Ländern der westlichen Hemisphäre jahrhundertelang die meisten Sklaven importiert hatte, erst 1888 abgeschafft. In Afrika, dem Heimatkontinent der schwarzen Sklaven, breiteten sich Sklaverei und Sklavenhandel im Verlauf des 19. Jahrhunderts sogar noch weiter aus: eine Entwicklung, die nach 1870 mehreren europäischen Mächten, obenan Großbritannien und Frankreich, als humanitäre Rechtfertigung ihrer Kolonialpolitik diente.[
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