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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Wahlen zu einer Konstituante, die die Grundlagen für eine demokratische Entwicklung Rußlands schaffen sollte, eine sofortige und umfassende Amnestie für alle politischen Gefangenen und Verbannten, volle Rede-, Presse-, Religions-, Versammlungsund Streikfreiheit, die Ersetzung der Polizei durch eine nationaleMiliz sowie demokratische Wahlen auf örtlicher Ebene. Der Sowjet organisierte die Lebensmittelversorgung der Hauptstadt und bildete eine Volksmiliz. Der «Befehl Nr. 1» vom 14. März unterstellte die Truppen der politischen Kontrolle des Sowjets. Die Offiziere mußten sich vor den neu gebildeten Mannschaftskomitees legitimieren, die Soldaten Befehlen nur gehorchen, wenn diese nicht im Widerspruch zu den Beschlüssen des Petrograder Sowjets standen. Die Anordnung zielte auf nicht weniger als die Abschaffung der Offizierskaste – und in der Folge davon der bisherigen Form von militärischer Disziplin.
    Am 27. März folgte ein Manifest an die Proletarier aller Länder, in dem der Petrograder Arbeiter- und Bauernrat den Sieg der russischen Demokratie als «großen Sieg der Weltfreiheit und Demokratie» feierte, durch den «die Hauptsäule der Weltreaktion und der Gendarm Europas» zum Einsturz gebracht worden sei. Das demokratische Rußland könne keine Bedrohung der Freiheit und der Zivilisation sein. An die Proletarier erging deshalb der Aufruf, das «selbstherrische Joch» abzuwerfen, wie es die russische Arbeiterklasse getan habe, und sich nicht länger als «Waffe für Annexionen und Gewalt in der Hand von Königen, Gutsbesitzern und Bankiers» einsetzen zu lassen. Ein Kongreß der lokalen Arbeiter- und Soldatensowjets, der vom 11. bis 16. April in Petrograd tagte, brachte diesen Appell auf die einprägsame Formel von einem allgemeinen Frieden «ohne Annexionen und Kontributionen».
    Mit der Konstituierung der Provisorischen Regierung und des Petrograder Sowjets begann in Rußland der Zustand der (schon damals so genannten) «Doppelherrschaft». Ihr widerspruchsvolles Wesen hat der deutsche Historiker Dietrich Geyer prägnant beschrieben: Die Räte traten «in den Behördenstaat nicht hinein, sondern beschränkten sich darauf, ihn von außen her umklammert zu halten. Sie konnten ihn lähmen, aber sie dachten nicht daran, ihn auf revolutionäre Weise aufzuheben … In Erwartung der Verfassunggebenden Versammlung kam der politische Umgestaltungswille der Revolutionäre zum Stehen … In der Praxis ergaben sich aus diesem Attentismus gegenüber der staatlichen Macht sehr merkwürdige Formen wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Regierung und Sowjet. Der Begriff der ‹Doppelherrschaft›, der dafür geprägt worden ist, trifft den Sachverhalt nur unvollkommen. Die, denen die Akklamation der Massen versagt blieb, sollten regieren, ohne die Macht je wirklich zu besitzen,während die, denen die Revolution die Macht entgegentrug, die Macht nicht haben wollten.»
    Als die Februarrevolution begann, waren die meisten führenden Bolschewiki noch im Exil: Lenin, Sinowjew und Karl Radek in der Schweiz, Bucharin in New York, wo er, zusammen mit dem bisherigen linken Menschewik Leo Trotzki, der sich in dieser Zeit immer mehr den Positionen Lenins annäherte, eine Emigrantenzeitung herausgab. Andere maßgebliche Bolschewiki, darunter Stalin, Kamenew und Swerdlow, lebten als Verbannte in Sibirien. Die letzteren kehrten als erste, noch Ende März, nach Petrograd zurück. Dort brachten sie sogleich die «Prawda», die Parteizeitung, unter ihre Kontrolle. Sie nutzten dieses Forum, um eine enge Zusammenarbeit zwischen Sowjet und Provisorischer Regierung und unverzügliche Friedensverhandlungen mit allen kriegführenden Mächten zu fordern. Bis dahin sollten die Soldaten auf ihren Posten bleiben.
    Lenin war radikal anderer Ansicht. Aus dem Schweizer Exil warf er Ende März in zwei «Briefen aus der Ferne» den beiden wichtigsten bürgerlichen Mitgliedern der Provisorischen Regierung, Außenminister Miljukow und Kriegsminister Gutschkow, vor, sie seien von den anglo-französischen Imperialisten zur Machtergreifung gedrängt worden, um anschließend den imperialistischen Krieg zu verlängern. Lenin verlangte die Aufhebung der Verträge zwischen den Alliierten, die Veröffentlichung aller Geheimabkommen sowie die Befreiung aller Kolonien und forderte die Arbeiter aller Länder auf, ihre Regierungen abzusetzen und die ganze Macht Arbeiterräten zu übertragen. Das war nichts anderes als der Aufruf zur proletarischen

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