Geschichte des Westens
Sowjetkongreß, auf dem sie die Mehrheit hatten, scharfe Kritik seitens Lenins und der Bolschewiki eintrug. Ende Juni ordnete Kerenskij, der Gutschkows Nachfolge als Kriegsminister angetreten hatte, mit Unterstützung des Exekutivkomitees der Sowjets eine militärische Offensive der russischen Truppen an. Drei Wochen später war sie, trotz anfänglicher Erfolge General Brussilows an der galizischen Front, vollständig gescheitert.
Am 16. Juli brach in Petrograd (in Abwesenheit Lenins, der in der weiteren Umgebung der Hauptstadt Urlaub machte) ein Aufstand aus, bei dem die führenden Bolschewiki mehr die Getriebenen als die treibende Kraft waren. Sie hatten weder den großstädtischen Pöbel, die Anarchisten und die eigene Militärorganisation unter ihrer Kontrolle noch hinreichenden Rückhalt bei den Soldaten. Bei Kämpfen zwischen Matrosen aus Kronstadt, einem probolschewistischen Regiment der Petrograder Garnison, Arbeitern der Putilow-Werke, Anhängern der Bolschewiki und Anarchisten auf der einen, regierungsfreundlichen Truppen auf der anderen Seite, gab es etwa 400 Tote und Verletzte; es kam zu Plünderungen, willkürlichen Verhaftungen durch Anhänger der Bolschewiki und schließlich zu einem Sturm auf das Taurische Palais, den Tagungsort des Petrograder Sowjets. Mit dieser Aktion brach die Erhebung nach drei Tagen faktisch in sich zusammen: Ein Aufruf des Sowjets an die Arbeiter, friedlich nach Hause zu gehen, wurde weitgehend befolgt.
Einen Tag später, am 19. Juli, ordnete die Provisorische Regierung die Verhaftung der führenden Bolschewiki an. Lenin und Sinowjew konnten sich der Festnahme durch die Flucht ins autonome Finnland entziehen. Um dieselbe Zeit veröffentlichten russische Zeitungen ausführliche Berichte über anhaltende hohe Geldzahlungen des deutschen Generalstabs an Lenin. Die Ereignisse von Mitte Juli bedeuteten einenschweren Rückschlag für die Bolschewiki. Einige Tage lang schienen sie fast von der Bildfläche verschwunden.
Am 21. Juli trat Fürst Lwow, der Ministerpräsident der Provisorischen Regierung, von seinem Amt zurück. Seine Nachfolge übernahm der energische und beredte Kerenskij. Am 22. August wurden die immer wieder hinausgeschobenen Wahlen zur Konstituante auf den 25. November 1917 festgelegt. Eine Beruhigung der inneren Lage aber trat nicht ein. Die Fälle von Befehlsverweigerungen im Militär, Desertionen und, da eine Bodenreform immer noch auf sich warten ließ, illegalen Landbesetzungen durch Bauern häuften sich; die Versorgungslage wurde immer schlechter. Eine von Kerenskij einberufene Staatskonferenz von über 2000 Vertretern aller Schichten und der Parteien mit Ausnahme der Bolschewiki im August zeitigte keine praktischen Ergebnisse. Die Antwort der nationalistischen Rechten auf den Linksruck der Provisorischen Regierung war ein Putschversuch des Oberbefehlshabers der Armee, General Kornilow, am 9. September – sechs Tage, nachdem deutsche Truppen Riga eingenommen hatten. Das Unternehmen scheiterte am passiven Widerstand der Eisenbahn- und Telegrafenarbeiter. Kornilow und seine Generäle wurden verhaftet. Am 14. September erklärte Kerenskij Rußland offiziell zur Republik.
Nutznießer der Septemberkrise war die äußerste Linke in Gestalt der Bolschewiki. Im Petrograder und Moskauer Sowjet konnten sie auf Grund ihres erfolgreichen Einsatzes im Kampf gegen Kornilow die Mehrheit der Deputierten hinter sich bringen. Leo Trotzki, der sich nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil den Bolschewiki angeschlossen hatte, begann, tatkräftig unterstützt von den im Frühjahr gewählten Fabrikkomitees der Arbeiter, mit dem Aufbau einer bewaffneten paramilitärischen Organisation, der «Roten Garden».
Lenin hielt sich um diese Zeit noch in Finnland auf. Mitte September schrieb er einen Brief an das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, also die Führung der Bolschewiki, in dem er die kühne Behauptung aufstellte, anders als im Juli hätten die Bolschewiki jetzt die «Mehrheit der Klasse, der Avantgarde der Revolution, der Avantgarde des Volkes», ja die Mehrheit des Volkes hinter sich. «Alle objektiven Voraussetzungen eines erfolgreichen Aufstandes sind gegeben.» Die Macht müsse jetzt sofort in die Hände der «vom revolutionären Proletariat geführten revolutionären Demokratie» übergehen. Unterdem Druck der Massen gelte es, die von Kerenskij einberufene «Demokratische Konferenz», eine Art von «Vorparlament», vor eine
Weitere Kostenlose Bücher