Geschichte Irlands
Nahverkehrssystem noch sehr unterentwickelt war, waren die Arbeiter darauf angewiesen, in der Nähe der Fabriken zu wohnen. Hier bildeten sich Slums bzw. Arbeiterkolonien, während diejenigen, die es sich leisten konnten, in die exklusiven Vororte abwanderten. Erst die Einführung der elektrischen StraÃenbahn ab 1872 überbrückte die Distanzen.
Weil sich jedoch im 19. Jahrhundert die Stadtlandschaft fortwährend veränderte, was in Dublin unter anderem am Bau der Eisenbahnlinien und der Bahnhöfe lag, konnten sich kaum lokale Identitäten herausbilden. Im Gegenteil, Charakteristika des beschleunigten Lebenswandels im viktorianischen Zeitalter waren für eine groÃe Bevölkerungsmehrheit die soziale Entwurzelung und die alltägliche Kriminalität auf der StraÃe. Fast mehr noch als in London blühten in den irischen Städten und allen voran in Dublin die Lotterie- und Wettbüros. Hier wurde Armut nachgerade geschaffen, wenn Handwerker und Arbeiter in der Hoffnung auf einen schnellen Gewinn ihren gesamten Besitz verwetteten.
Mangelnde Sozialhygiene, städtischer Lärm und Smog, Epidemien, Armut, Arbeitslosigkeit, unzureichende Ernährung und verunreinigtes Trinkwasser schufen bei gleichzeitigem Bevölkerungswachstum zum Teil katastrophale Verhältnisse. Die in ganz Europa hohe Säuglingssterblichkeit machte auch in Irland keine Ausnahme, wo die übliche Praxis, Kinder auszusetzen und sie der Obhut staatlicher Findelhäuser zu überlassen, einem nahezu sicheren Todesurteil gleichkam.
Ein stärkerer Kontrast zum Milieu des aufstrebenden Wirtschafts- und Industriebürgertums von Belfast lieà sich kaumvorstellen. Arbeitsethos, religiöser Ernst, soziales Leistungsdenken, Bereitschaft zu ökonomischem Risiko und politischer Individualismus spiegelten hier geistige Prinzipien des kirchlichen Nonkonformismus. Dieser stellte in Belfast, anders als in Dublin, eine Gesinnungsgemeinschaft her, die auch für europäische Zuwanderer, etwa jüdische aus den gehobenen Mittelschichten, attraktiv war.
Dublin wurde maÃgeblich von seiner Funktion als Handelsknotenpunkt sowie als administratives und kulturelles Zentrum geprägt. Als Reflex des irischen Nationalbewusstseins trat 1854 neben das Trinity College die katholische Universität (seit 1909 University College Dublin). Des Weiteren beherbergte die Stadt die renommierten wissenschaftlichen Vereinigungen des Landes, mehrere Theater und die Sitze des protestantischen und des katholischen Erzbischofs. Mit der Bildung des Irischen Freistaats 1922 erreichte der Aufstieg Dublins seinen vorläufigen Höhepunkt, denn nun begannen auch Parlament, Ministerien, Botschaften und internationale Organisationen das Stadtbild zu prägen.
Die Urbanisierung Irlands stand in unmittelbarer Beziehung zur Auswanderung: Emigration hieà Landflucht. Der soziale Wandel hatte auch einschneidende Konsequenzen für die Geschlechterbeziehungen, denn deutlich mehr Frauen zogen vom Land in die Städte, und viele Bauernhöfe wurden von nun an von alleinstehenden Männern und nicht mehr von Familien bewirtschaftet. Auch das West-Ost-Verhältnis veränderte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, und zwar zu Ungunsten des Westens. Ohne Zweifel war Connacht am stärksten betroffen. Wem es hier finanziell möglich war oder wessen Familie bereits in Ãbersee lebte, emigrierte. Doch wenn in den extrem verarmten Provinzen des Westens die Bevölkerung drastisch zurückging, dann war das eher die Folge der Hungersnot als eine der Emigration. In den Jahren zwischen 1841 und 1851 starben in Irland über 1,62 Millionen Menschen, davon 56 % Männer. Die meisten Todesfälle verzeichnete man in Connacht (29 %), die wenigsten in Leinster (15 %). Nachdem dann die Hungersnot überwunden und nunmehr vor allem die Emigration für den Bevölkerungsschwundverantwortlich war, stammte die Mehrheit der Emigranten aus dem vergleichsweise reichen Munster (19 %) und nur 10 % aus Connacht.
Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die saisonale Wanderung von Landarbeitern begonnen. Nach dem Einpflanzen der Kartoffeln und nach dem Torfstich für den kommenden Winter konnten sie Irland zwischen Frühsommer und Herbst verlassen. In England halfen sie vor allem bei der Getreideernte. Die Hauptwelle der Auswanderung setzte dann um 1845 ein. In den zehn Jahren bis 1855
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