Geschichten aus der Müllerstraße
Luxus-Sorgen. Nach einem Besuch des
Imbiss zur Mittelpromenade
hat man genug damit zu tun, die folgende Nacht zu schaffen. Und ich bin sicher, nicht allen gelingt das. Klar, im Verkehrstotenbericht von Berlin taucht die Ecke Seestraße/Müllerstraße immer wegen der Straßenbahnunfälle als Spitzenreiter auf. Aber niemand führt Buch darüber,
warum
die Menschen sich hier scheinbar wie die Lemminge in den Abgrund vor die Wagen der Linie 52 stürzen.
Seit Langem schon wechsele ich, wenn ich nachts von den Brauseboys oder aus der U-Bahn komme, die Straßenseite erst auf Höhe Genter-/Lüderitzstraße. Es hat lange gedauert, aber heute weiß ich, wie ich der Bude entkomme. Man muss sie austricksen, man muss sie weiträumig umgehen. Man darf nicht in ihren Dunstkreis kommen, und das Wort ist hier ausnahmsweise verdammt noch mal wörtlich zu nehmen, jedenfalls nicht, wenn man zuvor Bier getrunken hat und anfällig ist für den Geruch von siedendem Fett und brutzelnden Kartoffelsurrogatschnipseln. Ich weiß das. Es ist eines der Privilegien des Älterwerdens, nicht mehr jede Herausforderung suchen zu wollen.
Es war ein schöner Abend gewesen. Zufrieden torkelten der Dichter aus der fernen Stadt und ich zu später Stunde nach den Brauseboys nach Hause, schon wollte er nach der Nachtbushaltestelle fragen, da wurden seine Augen plötzlich größer, und ein leicht satanisches Grinsen kroch in sein Gesicht, als er fragte: »Da ist ja noch eine Pommesbude! Wollen wir nicht noch?«
Erschrocken sah ich ihn an. Das ist der
Imbiss zur Mittelpromenade
, wollte ich zu einer Warnung ausholen, aber im Dichterkopf waren alle Synapsen schon umgelegt, die Gier trat in seine Augen: »Komm, noch eine Currywurst. Auf den schönen Abend. Wenn ich schon mal im Wedding bin.«
Und ohne weiter abzuwarten, zog es ihn schon in Richtung Mittelstreifen, hin zum Licht, wie ein überdimensionaler Nachtfalter strebte er auf die Luke zu. Ach, was soll’s, dachte ich. Ich war schon monatelang nicht mehr dort gewesen, warum also nicht.
So bestellten wir also je eine Currywurst. Wir sahen der Wirtin zu, wie sie wortlos zwei Würste aus dem Sud griff und mit unbewegter Miene in die Fritteuse gleiten ließ. Mich durchzuckte ein leichter Ekel, aber der Freund bleckte die Zähne und ließ seine fleischige Zunge über die Lippen fahren. Er wollte es jetzt und er wollte es hier. Und er wollte es hart. Sein lefzender Blick hing an der Zange der Fritteusin, an jeder ihrer Bewegungen. In jedem anderen Zusammenhang hätte man das als ungebührliches Anstarren gewertet, und ja, er starrte sie an und war nicht an ihr als Person interessiert, er wollte nur ihr Fleisch, Fleisch!, heißes, tropfendes Fleisch, und sie war willig, ihm zu Diensten zu sein. Für nur einen Euro fünzig ließ sie es spritzen und blubbern, dann tauchte sie tief ein in das Inferno der Fleischeslust, hielt seine Wurst zwischen ihren stählern verlängerten Fingern, schüttelte, bis sie den letzten Tropfen herausgemolken hatte.
»Normal oder extra scharf?«, fragte sie gelangweilt, und der Dichter rief: »Scharf! Ja, extra scharf!«
Das Pulver staubte, der Ketchup ergoss sich darüber, und schon standen wir an den Stehtischchen mit der dampfenden Masse vor uns, ein frisches Bier daneben, und gierig schlangen wir die Bröckchen in uns hinein. Schmeckt ja doch eigentlich ganz gut, dachte ich, wohl wissend, dass dies eine Täuschung ist, eine Art Geschmacks-Fata-Morgana, aber was soll’s, bereuen könnte ich auch am nächsten Morgen noch, sogar richtig, wie sich im nächsten Moment herausstellte, denn der Dichter hatte noch nicht genug.
»Komm, wir nehmen noch eine«, rief er mir zu, »ich war schon seit Jahren nicht mehr im Wedding, und jetzt will ich’s haben, jetzt will ich’s richtig, los, wir bestellen noch eine!«
Irgendwo in meinem Kopf leuchteten noch einige Warnlampen auf, das System lief zuverlässig, an sich, es erkannte die Gefahr. Sie war allerdings auch nicht schwer zu erkennen, denn der Dichter stand an der Luke und blaffte: »Noch zwei Würste! Scharfe Würste! Extra-scharfe Würste, mach sie uns heiß, bitte, wir wollen es heiß und scharf!«
Dann drehte er sich zu mir um und rief: »Und wir nehmen noch’n Schnaps!«
Es war keine Frage. Die Warnleuchten blinkten hektischer, fast hätten sie mich in die Realität zurückgeholt, fast hätte ich ein »Nee, lass mal, für mich nicht mehr!« zu ihm gerufen, da hatte er die Bestellung schon aufgegeben und ich sah, wie die
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