Geschichten aus der Müllerstraße
Fahrgast auf einer Bank. Also traute ich mich wieder auf den Bahnsteig, versuchte, alle »Hurensohn«-Rufe zu ignorieren, nahm noch einmal all meinen Mut zusammen und rief rüber, ob sie nichts Besseres zu tun hätten, als nachts irgendwelche wildfremden Leute anzupöbeln, obwohl ich die Antwort selbstredend schon kannte. Aber egal, verloren hatte ich eh, da konnte ich meinem Ärger auch mal Luft machen.
Mit klammem Gefühl in der Brust erreichte ich die Bank in der Mitte des Bahnsteigs. Ein Mann saß darauf. Mitte vierzig, seine Fußspitzen taxierend. Ich weiß nicht, ob er meine Anwesenheit registrierte.
»Hurensohn, renns’ einfach weg! Ey, du bist mindestens sechsunzwanzisch und läufs’ vor uns weg wie’n Mädschen.«
Hatten mich die Jungs gerade auf sechsundzwanzig geschätzt? Vielleicht waren sie ja doch ganz okay.
»Ey, Hurensohn! Bist voll das Mädschen, Hurensohn!«
Nee, doch nicht. In anderen Kontexten, zum Beispiel viel später, hätte mich diese Aussage sicherlich amüsiert: Ein Hurensohn, das Mädchen ist. Unterrichtet Judith Butler inzwischen an einer Weddinger Oberschule?
»Hurensohn, isch ficke deine Mutter!«
Im Nachhinein möchte man da fragen: »Echt? Du willst eine Prostituierte ficken? Willste etwa Papa von ’nem Hurensohn werden?«
»Hurensohn, bist voll das Opfa!«, riefen sie von drüben, höhnisch und aggressiv. Der schlaksige Araber der Gang sprang wieder vom Bahnsteig ins Gleisbett.
»Ey, nisch ins Gleis, pass auf, U-Bahn kommt gleisch«, warnte Pummelchen seinen Kumpel, ich überlegte, so etwas wie »Schön wär’s!« zu rufen, verkniff es mir aber.
Pummelchen zog seinen Kumpel wieder auf den Bahnsteig, der hatte eine Handvoll Steine aus dem Gleisbett gegrabscht.
Der Mann neben mir auf der Bank lernte weiter seine Schuhspitzen auswendig und sah nur einmal kurz auf, als der erste Stein auf dem Bahnsteig aufschlug, und guckte mich vorwurfsvoll an, als hätte ich den Stein geschmissen. Der zweite Stein sollte mich treffen und verfehlte meinen Kopf nur um einen knappen Meter.
Ich beeilte mich, hinter einem Kiosk in Deckung zu gehen. Lachen. »Hurensohn«, »Opfer-Opfer«-Rufe. Steinwürfe. Der Mann auf der Bank mit seinem Was-geht-mich-das-an-Gesicht, weitere Wartende waren gekommen, quatschten aber irgendwo hinten und kriegten nicht mit, was geschah. Verbale Großmäuligkeit ist ätzend, aber gezielte Steinwürfe gehen definitiv zu weit. Ich griff nach meinem Handy, verdammt, meine Finger zitterten sogar! Wegen ein paar Vierzehnjähriger! Doch es gelang mir, die Ziffernfolge »110« einzutippen, dann versuchte ich, so ruhig wie möglich zu erklären, wieso ich anrief, während noch ein paar weitere Steine links und rechts an mir vorbeizischten.
Noch während ich mit der Polizei telefonierte, kam drüben die U-Bahn, die drei halbstarken Arschlöcher stiegen grinsend ein. »Okay, ich glaub, hat sich erledigt, die sind weg …«, sagte ich ins Telefon und legte auf. Die U-Bahn fuhr an, die lustige Gang von der Seestraße kasperte noch an der Scheibe rum und winkte mir zu – unschwer zu erraten, welches Wort ihre Lippen gerade formten.
Paul Bokowski
Ostern in der Müllerstraße
Im rechten Seitenflügel der Müllerstraße 138, aufgestützt auf ein Kissen am offenen Fenster, steht die Rentnerin Rita Schoblinksy und ruft nach ihrer langjährigen Freundin Herta Kemper aus dem gegenüberliegenden Seitenflügel:
RITA : Herta!
HERTA : Watt’n?
RITA : Herta!
HERTA : Ja, watt’n?
RITA : Komma ans Fensta!
(An einem anderen offenen Fenster derselben Wohnung steht die erwachsende Tochter Sabrina Schoblinksy und brüllt unaufhörlich hinunter in den Innenhof)
SABRINA : KALT!
RITA : Hertaaaa!
HERTA : Ja, ja, wat issn los?
RITA : Kiek ma, Herta.
HERTA : Wat soll ick’n kieken?
RITA : Kennste noch die beeden?
(Sie zeigt hinunter in den Innenhof.)
HERTA : Nee.
SABRINA : JANZ KALT!
RITA : Klar kennste die!
HERTA : Nee, Rita. Kenn ick nich.
RITA : Mensch Herta, logo kennste die. Dit sind doch die Kinda von meener Sabrina.
HERTA : Wat?
SABRINA : SO RICHTIG KALT!
RITA : Na die Kinda von meener Sabrina.
HERTA : Seit wann hat die Sabrina denn Kinder?
RITA : Na, richtig lang schon.
HERTA : Wie!? Richtig lang schon?
SABRINA : NEE, SARAFINA, KUCK MA LIEBER IRGENDWO DA DRÜBEN!
RITA : Na, so richtig lang schon. Wart ma eben!
(Brüllt hinunter in den Innenhof.)
Jeremy! Jeremy! Zeigste die Tante Herta ma, wie alt du dieset Jahr jeworden bist?
HERTA :
(Zu Jeremy.)
Kannste
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