Geschmacksverwirrung - Angermüllers siebter Fall
Prolog
Guten Tag,
mein Name tut hier nichts zur Sache, abgesehen davon, dass ich gar keinen habe. Ich erblickte das Licht der Welt vor ungefähr einem halben Jahr. Doch es war nicht die Sonne, in die ich blinzelte, es war das Kunstlicht in einer Brüterei. Ich war ein niedliches, plüschiges Küken, genau wie alle meine Geschwister. Manche von denen aber waren zu langsam und kamen nicht auf ihre Beinchen. Die landeten gleich zusammen mit Eierschalen, toten und kranken Tieren im Häcksler. Ich hatte Glück und blieb auf dem Fließband ins weitere Leben. Obwohl ich mich inzwischen frage, ob es tatsächlich ein Glück gewesen ist …
Vom Fließband führte unser Weg mich und die anderen in diese Halle. Hier drinnen wird es nie richtig hell, und es ist auch ein wenig eng, das muss ich sagen. Gleich zu Beginn hatte ich eigentlich keine Lust, mir einen Quadratmeter mit zwei Kollegen zu teilen, war manchmal ziemlich gereizt und hackte mal nach rechts und links, die anderen machten das ja auch. Obwohl sie uns die Schnäbel gleich nach dem Schlüpfen mit einem Laser gekürzt haben – natürlich ohne Betäubung –, kann man damit die anderen noch ganz schön verletzen.
Doch es kam ja noch schlimmer. Wir waren alle gute Fresser, was sollten wir hier auch anderes tun? Leider waren die Kraftfutterpellets, die man uns täglich servierte, innerhalb einer Viertelstunde verputzt, und so langweilten wir uns dann nur noch den lieben langen Tag. Es soll Artgenossen geben, hab ich gehört, die ganz so leben dürfen, wie es unserer Natur entspricht. Auf kleinen Bauernhöfen spazieren sie draußen herum, erkunden die Umgebung, picken mal hier und mal dort ein bisschen, auf der Suche nach Futter, bis sie müde sind und sich zum Schlafen auf einen Baum zurückziehen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Baum gesehen. Eine Wiese übrigens auch nicht.
Aber ich komme ins Träumen! Ich wollte doch erzählen, wie wir in rasender Geschwindigkeit an Gewicht zulegten. Stellen Sie sich vor: In nur fünf Monaten habe ich mein Körpergewicht von 50 Gramm auf stolze 20 Kilo gesteigert! Das Vierhundertfache! Machen Sie uns das mal nach! Die wachsende Enge machte uns nicht gerade friedlicher. Manche kriegten einen richtigen Lagerkoller, hackten so lange auf die Freunde neben ihnen ein, bis die schwer verletzt am Boden liegen blieben. Haben Sie schon einmal tagelang in mit scharfen, stinkenden Exkrementen beschmutztem Stroh gelegen? Nicht nur die kranken Kameraden, auch wir anderen nutzten den Boden zum Schlafen. Es gab ja nirgendwo ein Bett, sprich eine Sitzstange für uns.
Es ist mir ein wenig peinlich, das zu erwähnen, aber auch die Hygiene wurde mit der Zeit immer schwieriger. Ein Sandbad war in der Enge gar nicht mehr möglich, und wegen meiner künstlich hochgezüchteten Brust, deren Last mir das Gleichgewicht raubte, konnte auch ich irgendwann nur noch im Sitzen mein Gefieder putzen. Aber versuchen Sie das mal, wenn um Sie herum nur übel riechendes, kotiges Stroh ist!
Ab und zu betritt einmal ein Mensch unseren Stall, kontrolliert Wasser- und Futterversorgung, packt die Schwachen und die Toten in einen Sack und verschwindet wieder, das war’s. Aber ich wollte Ihnen noch von etwas anderem berichten, von unseren Krankheiten. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Manche hatten Verformungen an den Fersengelenken, andere litten unter Fußballengeschwüren. Bei keinem waren die Knochen in Ordnung – oder glauben Sie, Ihr Knochengerüst könnte so viel Übergewicht ohne Brüche oder Verformungen tragen? Natürlich blieben viele von uns auf der Strecke. Und weil die nun mal so zwischen uns lagen, von Fliegen umschwirrt, pickten wir aus Langeweile auch an denen herum. Immer nur Kraftfutterpellets fressen ist auf die Dauer ja auch öde. Manche Kollegen hatten es auch mit den Atemwegen, oder sie hatten Herz-Kreislauf-Probleme. Von den wunden Stellen und den Geschwüren am Bauch, vom langen Liegen, will ich gar nicht erst anfangen. Manchmal haben uns die Menschen auch Medizin gegeben, um uns wieder gesund zu machen, Antibiotika. Leider helfen die oft nicht mehr, weil man sie bei unsereins schon viel zu oft eingesetzt hat und die Krankheitserreger mittlerweile resistent dagegen sind.
Sie können sich vielleicht vorstellen, dass ich meinem Ende – so grausam es auch sein mag, langsames Ersticken durch Kohlendioxid oder kopfüber hängend durch ein Elektrobad – relativ gelassen entgegensehe. Und eines tröstet mich: Wenigstens
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