Geschmacksverwirrung - Angermüllers siebter Fall
Ecke auf dem Boden gelandet. Er zog die Haustür auf. Nichts zu sehen draußen als die nebligen Lichthöfe der Straßenlaternen. Irgendwo in der Nähe schlug eine Autotür, und aus der Ferne hörte er den dumpfen Ton des Nebelhorns. Wieder im Flur, tastete er nach dem Lichtschalter. Dann bückte er sich nach seinem Wohnungsschlüssel, der ihm in dem Versuch, sich irgendwo festzuhalten, aus der Hand gefallen war. So ein ungehobelter Mensch aber auch, der ihn einfach umrannte und sich überhaupt nicht darum kümmerte. Kein Wort der Entschuldigung und einfach weg! Schließlich hätte er sich dabei auch ernsthaft verletzen können.
»Aua.«
Seine Schulter schmerzte immerhin. Er wischte zwei weiße, flaumige Federn von seinem Ärmel. Ob das ein Nachbar gewesen war? Dann jedenfalls kein sehr angenehmer. Oder derjenige hatte bei jemandem im Haus auch eine dieser komischen Halloweenpartys gefeiert. Draußen waren ihm heute Abend einige wild verkleidete Menschen begegnet, auch Erwachsene, und seine beiden Töchter hatten ebenfalls begeistert von einer Einladung zum Kostümfest erzählt. Doch auch eine Halloweenparty entschuldigte nicht so ein rücksichtsloses Verhalten.
Mit seinem Namen standen insgesamt fünf auf dem Klingelschild. Bis auf Frau Kornelius, die Hausbesitzerin, die über ihm im ersten Stock wohnte, hatte Angermüller noch keinen der anderen Mitbewohner kennengelernt. Die Lage der kleinen Wohnstraße in der Nähe vom Brink hätte besser nicht sein können. Im Stadtteil St. Jürgen gelegen, ziemlich genau in der Mitte zwischen seiner Arbeitsstelle und seinem alten Domizil, umgeben von den Wassern der Kanaltrave und der Wakenitz, gab es viel Grün in der Gegend, und die Innenstadt war bequem fußläufig erreichbar. Das Haus war von einem Garten umgeben, stammte aus der Gründerzeit und hatte hübsche Erker und Balkons. Gemeinhin bezeichnete man so eine Wohnung als echten Glücksgriff. Das Wort Glück allerdings wollte Angermüller im Zusammenhang mit seinem Umzug überhaupt nicht einfallen. Mit einem Seufzer, der ihm selbst gar nicht bewusst war, schloss er die Wohnungstür auf.
Immer noch roch es nach Farbe, nach Holz, irgendwie neu und unbewohnt. Auch als er es sich mit einem Rotwein – einer fränkischen Domina von herb-fruchtiger Tiefe – in seinem alten Ohrensessel gemütlich gemacht hatte und seiner Lieblings-CD von Paolo Conte lauschte, wartete er vergeblich auf das vertraute Empfinden, endlich zu Hause zu sein. Schon vor Wochen eingezogen, war er hier noch lange nicht angekommen. Vieles fehlte noch in seiner neuen Behausung, es gab jede Menge Kleinigkeiten auszupacken, anzuschrauben, aufzustellen oder zu besorgen. Aber tief im Innern ahnte er, dass manches von dem, was er vermisste, hier vermutlich nie vorhanden sein würde. Natürlich war der Umzug die richtige Entscheidung gewesen, das sagte ihm sein Verstand immer wieder. Doch offensichtlich musste er sich an das Alleinleben erst wieder gewöhnen.
Er hatte die Weinflasche bereits halb geleert, ohne dass sein Hungergefühl nachgelassen hätte. Meist kam er nach den Abenden mit Anita hungrig nach Hause. Eine Weile versuchte Angermüller noch, sich gegen seinen fordernden Magen zu wehren, doch schließlich gab er den Kampf auf. Beim Öffnen der Kühlschranktür überkam ihn glückliche Vorfreude. Er schnitt sich eine dicke Scheibe Katenschinken ab, ein Stück von einem milden Ziegenkäse und eines vom kräftigen Lauenburger, arrangierte alles liebevoll auf einem Holzbrett und legte noch zwei Scheiben kerniges Schwarzbrot daneben.
Langsam und mit Genuss verzehrte er seinen nächtlichen Imbiss, hörte Musik und trank den restlichen Rotwein. Niemand tadelte ihn ob des unvernünftigen Essens zu dieser späten Stunde oder wegen maßlosen Alkoholgenusses. Die nebelschwere Unwirtlichkeit draußen und die Leere, die er vor Kurzem noch in seinem neuen Wohnzimmer empfunden hatte, lösten sich in einem satten Wohlgefühl auf.
Wenig später fiel er mit schweren Gliedern ins Bett. Beim Umdrehen spürte er kurz einen Schmerz in seiner Schulter, doch war er zu müde, um sich über dessen Verursacher Gedanken zu machen, geschweige denn, sich noch weiter über diese dreiste Rüpelhaftigkeit zu ärgern.
Ein wattiges Grau lag in vielerlei Abstufungen über der Altstadtinsel und ließ ihre Kirchtürme wie hinter Milchglas stehen. Im Büro im siebten Stock des Behördenhochhauses konnte an diesem späten Vormittag von Helligkeit keine Rede sein.
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