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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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Begriff des »Fremden« auftaucht. Ausgelöst wurde die Debatte durch die eskalierende Gewalt rechtsextremer Gruppen gegen Ausländer und gesellschaftliche Randgruppen. Die Psychologie bemüht sich dabei um ein Verständnis des »Fremden in uns«, um die bis zum Totschlag bereite Verfolgung des »Fremden um uns« überhaupt verstehbar zu machen. Nach meinem Eindruck klammert dieseDiskussion bisher noch zu stark die grundlegende Tatsache aus, dass Fremdheit schon viel früher zu einem Topos des modernen Menschen geworden ist. Dort, wo eine gesellschaftliche Entwicklung den ursprünglichen und umfassenden Sinn von »community«, von Gemeinwesen, zerstört hat und mithin das, was den Einzelnen in seiner sozialen Identität ausmacht, entwickelt sich das unbehauste Individuum, dem die Welt zur Fremde wird und das sich selbst fremd bleibt. Die neue Diskussion über das »Fremde« beschränkt sich nur auf äußere Symptome, solange sie den explodierenden Ausländerhass nicht als Ausdruck unerträglich gewordener Fremdheitsgefühle auffasst, für deren Projektion die aktuellen gesellschaftlichen Anlässe (etwa Asyldebatte, Migration, Arbeitslosigkeit, drohende Armut) lediglich zu Auslösern werden.
    Bin ich zu weit vom Thema abgeschweift? Wenn man die Erkenntnis ernst nimmt, wonach alles Persönliche auch politisch ist und das Politische ins Persönliche zurückwirkt, wofür zum Beispiel die vorliegenden Dokumente über die Geschwister Scholl ein beredtes Zeugnis ablegen, kann man die gesellschaftliche Dimension jeder Geschwisterbeziehung nicht übergehen. Es scheint mir für den inneren Zustand eines Gesellschaftssystems nicht unerheblich zu sein, ob es durch eine wachsende Zahl von Einzelpersonen immer stärker atomisiert wird oder ob geschwisterliche Subsysteme an seinem Zusammenhalt mitwirken. Der Trend ist bekannt: immer mehr gewollt oder ungewollt kinderlose Paare, über 50   Prozent der Ehepaare mit nur einem Kind, knapp 40 Prozent mit zwei Kindern, die steigende Zahl alleinerziehender Mütter mit nur einem Kind. Geschwister, so steht zu befürchten, sterben aus. Mir scheint die Vermutung nicht abwegig, dass dieser Verlust an geschwisterlicher Kohärenz sowohl eine Folge wachsender gesellschaftlicher Entfremdungsprozesse ist als auch zur Ursache einer sich fortschreibenden individuellen wie kollektivenFremdheit wird. Mit dieser Erosion hat der zivilisatorische Fortschritt den Zerfall der Gesellschaft beschleunigt. Wo bisher Kinder – und das waren mehrheitlich Geschwister – den Bestand der sozialen Gemeinschaft sicherten, droht jetzt ein Verlust dieses tragenden Fundamentes.
    Das Prinzip der Dialektik von Fortschritt und Zerfall gesellschaftlicher Systeme hat sich im Laufe der Geschichte im Untergang vieler Hochkulturen nach ihrer Blütezeit wiederholt bestätigt. Diese historische Dimension kann vielleicht am deutlichsten veranschaulichen, welche gesellschaftliche Bedeutung der Tradition von Geschwisterbeziehungen zukommt. Der kollektive Verlust von Geschwistern bedeutet letztlich das Ende einer Kultur.
    In diesem Maßstab erscheint auch das Thema der Geschwisterliebe noch einmal in einem neuen Licht. Wir leben in einer lieblosen Zeit, und wir tragen alle die Trauer über das Verschwinden von Mitmenschlichkeit, Loyalität und wechselseitiger Verantwortung mit uns herum. In dieser Situation bilden Geschwister oft die letzten Garanten für Zusammengehörigkeit und Zuständigkeit, wenn das Erschrecken über die Kälte menschlicher Beziehungen wächst. Geschwister können daher nicht nur in persönlichen Krisen zum Rettungsanker werden, sondern sie dienen auch in unschätzbarer Weise der Abpufferung gesellschaftlich erlittener Fremdheit und Isolation. Keine Geschwister zu besitzen oder mit ihnen gebrochen zu haben dürfte daher mit einer höheren Stressbelastung durch diese Art der Entfremdung verbunden sein. Natürlich haben Freundschaften in diesem Zusammenhang ebenfalls eine wichtige Bedeutung. Bei allen Grenzen der Vergleichbarkeit wird gerade im gesellschaftlichen Kontext deutlich, wie sehr Freundschaften auch die Funktion von »Ersatzgeschwistern« bekommen können. Die Tradition der Blutsbrüderschaft oder anderer Formen von »Bruderschaften« belegt deutlich, wie durch Freundschaftendie familiären Geschwisterbeziehungen nach außen hin erweitert, fortgeführt und teilweise auch ersetzt werden. Dennoch erreichen sie nur in Ausnahmefällen die Dauer, Verlässlichkeit und Tiefe, wie sie die Geschwisterbeziehung

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