Geschwister - Liebe und Rivalitaet
auszeichnen.
Auch die Flüchtigkeit, wie sie sich heute in vielen Partnerschaften findet, ist ein Spiegelbild gesellschaftlicher Entfremdung. In erschreckendem Maße sind sich Frauen und Männer gegenseitig Fremde geworden; so wie sie in einer unbehausten Gemeinschaft ihre eigene Mitte nicht finden, müssen sie sich wechselseitig ausgrenzen, weil unter dieser Bedingung Nähe und Miteinander zur unerträglichen Bedrohung werden. Was die Frauenbewegung als Selbstbewusstsein der Frauen etablieren wollte und was dadurch an neuem Bewusstsein bei den Männern angestrebt war, kehrt sich heute als teilweise panikartige Vermeidung gegen die Geschlechter um. Statt Verständigung und Versöhnung scheint sich die Kluft immer mehr zu vertiefen. Das ist nicht der Frauenbewegung anzulasten. Frauen und Männer, so scheint es eher, sind beide zu Opfern einer partikularisierten Gesellschaft geworden, deren extremer Individualismus durch den Verlust sozialer Bindung in letzter Konsequenz zur Selbstzerstörung des Subjektes führt. Was in der Gesellschaft als Dialektik von Fortschritt und Zerfall in Erscheinung tritt, kehrt auf tragische Weise im Einzelnen als Dialektik von Individualisierung und Selbstauflösung wieder. Dass unter dieser Voraussetzung einer Extremindividualisierung die Bereitschaft zu einem gemeinsamen Kind oder gar zu mehreren weiter abnehmen wird, wäre nicht verwunderlich, sondern zu erwarten. Vielleicht erklärt sich hieraus auch das heute so verbreitete und recht spezifische Stresssyndrom, das bei Müttern, aber auch bei Vätern, schon durch ein einziges Kind ausgelöst werden kann. Bis auf vereinzelte Analysen wurde das Syndrom bisher als zivilisatorisches Randphänomenbehandelt und der individuellen Verantwortung der »gestressten Mütter« übergeben. Auf jeden Fall scheint mir die zusätzliche Berufstätigkeit, die als Grund meist ins Feld geführt wird, keine auch nur annähernd ausreichende Erklärung zu bieten. Immer häufiger findet man das Syndrom auch und gerade bei Müttern, die nicht berufstätig sind. Dagegen fiel mir bei Hausbesuchen in türkischen Familien immer wieder die ausgesprochene Gelassenheit, Ruhe und Geduld der Eltern gegenüber dem lautstarken Treiben der Geschwisterschar auf – trotz Wohnraumenge, trotz sozialem Stress, trotz zusätzlicher Berufsarbeit. Was sich in diesen Unterschieden manifestiert, sind die entgegengesetzten Gefühlsqualitäten von sozialer Integration beziehungsweise Desintegration und von persönlicher Identität beziehungsweise De-Identität.
Auf dem geschilderten Hintergrund wird verständlich, warum in unserer Zeit Geschwister eine immer größere emotionale und praktische Bedeutung zu bekommen scheinen. Über alle Altersstufen hinweg, so mein Eindruck, rücken Geschwister wieder enger zusammen. Besonders in Not- oder Krisensituationen wird eine Schwester oder ein Bruder zum rettenden Hafen. Theoretisch ist diese Entwicklung nicht schwer zu verstehen.
Die bis zur Geburt und frühen Kindheit zurückreichende Vertrautheit und Nähe – die ursprüngliche Geschwisterliebe – scheinen mit einer hohen Immunität gegen spätere lebensgeschichtliche Erfahrungen von Entfremdung und Vereinzelung verbunden zu sein. In Situationen, in denen das Gefühl der Fremdheit sich selbst, anderen Menschen und der Welt gegenüber zunimmt, erfolgt ein Rückgriff auf das »Verwandte«. In der frühkindlichen Symbiose wurde ein Teil des Geschwisters in die eigene Person integriert und später zu einem guten inneren Objekt umgebaut. Dieser verinnerlichten Objektrepräsentanz verdankt die Geschwisterliebe ihre Dauer, ihre Stabilitätund Immunität gegen die endgültige Vereinzelung. Die Immunität gegen wechselseitige Entfremdung schafft die Gefühle von Schutz und Sicherheit durch ein Geschwister und setzt der Fremdheit Vertrautheit entgegen.
So etwa erkläre ich mir heute den Gefühlsausbruch meiner Schwester und von mir. Ein Vater, der an den Sonntagmorgen Klavier spielte, der uns Geschwistern durch seine historische Verwurzelung im Faschismus aber fremd geblieben war, ein Ausland, in dem man berufliche Erfüllung findet, in dem man jedoch ein Fremder bleibt, eine Welt schließlich, in der man lebt und zeitweilig glücklich ist, die einem aber Trauer und Fremdheit über ihren Zustand nicht erspart. Diese und andere Widersprüche mögen sich, beeinflusst durch die Musik, in dem Gefühl aufgelöst haben, in der Schwester, in dem Bruder das Vertraute wiederzufinden. Für diesen
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