Geschwister - Liebe und Rivalitaet
heute? Warum bin ich so geworden, wie ich bin? Dazu die Rückblende auf die Familie: Wer waren meine Eltern? Wie sah ich sie damals? Wie sehe ich sie heute? Wie haben die Wandlungen des Lebens das Bild von meinen Geschwistern verändert? Im Gespräch mit ihnen über diese Fragen macht man die erstaunlichsten Erfahrungen. Vielleicht erkennt man in keiner anderen Situation so deutlich die Verzerrungen der Realität, die unser Bewusstsein im Laufe vieler Jahre vornimmt. Erinnerungsfälschungen, Erinnerungstäuschungen und Erinnerungslücken sind das Produkt komplizierter innerer Abwehrvorgänge, die unsere Erfahrungen in spezifischer Weise filtern und im Gedächtnis speichern. Im Gespräch über die Vergangenheit bekommt das Geschwister die Funktion eines Spiegels, wie ich es bereits an früherer Stelle beschrieben habe. In diesem Spiegel ist das Bild von der Person, die man einmal war, in vielen Details sehr viel genauer aufbewahrt als in unserer eigenen Erinnerung. Durch die spezifischen und individuell unterschiedlichen Verdrängungsleistungen weiß man zum Beispiel oft nicht mehr, ob man als Kind mehr fröhlich oder traurig, witzig oder ernst, abenteuerlustig oder ängstlich war. Das Geschwister dient hierbei der Objektivierung und Rekonstruktion der ursprünglichen Wahrheit. Diese wechselseitige Spiegelfunktion kommt auch bei den Fragen zur Geltung: Wie bin ich erzogen worden? Wie bist du erzogen worden? Da die Erinnerungsverzerrungen im Bereich der Eltern-Kind-Beziehungen besonders ausgedehnt sein können, sind Geschwister durch die lange Nähe und Vertrautheit fast unentbehrlich, wenn man die eigene Lebensgeschichte genauer ergründen und das Geschwisterschicksal besser verstehen will.
Ein häufiges und besonders krasses Beispiel ist die Erfahrung von Gewalt. Gewalt in der Erziehung löst im Kindschmerzliche Gefühle von Angst, Scham, Schuld, Wut und Hass aus. Um die Liebe zu den Eltern nicht zu gefährden und um der Unerträglichkeit dieser Gefühle zu entgehen, werden sie in der Regel verdrängt; in schweren Fällen von Gewalterfahrung führen sie sogar zu einer betonten Idealisierung der Eltern, um die eigene Vergeltungsaggression in Schach zu halten. Durch solche Abwehrvorgänge haben viele Erwachsene nicht nur ihre Gefühle verdrängt, sondern auch die Tatsachen »vergessen«. Sie wissen nicht mehr, welcher Gewalt sie als Kinder ausgeliefert waren. Geschwister dagegen können sich in der Regel ziemlich genau daran erinnern; ihre Distanz, ihr Mitleid, ihr Erschrecken, aber zuweilen auch ihre heimliche Schadenfreude sind in oft quälender Form in ihrem Gedächtnis haften geblieben. Wenn sie selbst ähnliche Erfahrungen gemacht haben, werden diese im Vergleich mit dem Geschwister häufig abgemildert erlebt. Das gemeinsame Gespräch kann die realen Erlebnisse jedes Einzelnen klären helfen und dient dadurch dem Verständnis von emotionalen Beziehungsstrukturen innerhalb der Familie in einem übergreifenden Zusammenhang.
Die »Erinnerungsarbeit« von Geschwistern ist für jeden Einzelnen wichtig, um sich im Spiegel des anderen seiner selbst und der gemeinsamen Beziehung klarer bewusst zu werden. Die vielschichtigen und subjektiv gebrochenen Facetten der Erinnerung können durch zusätzliche Möglichkeiten objektiviert werden. In den Schubladen lagert dichtes Material – Fotografien, der Briefwechsel mit den Eltern und Geschwistern, Aufzeichnungen der Eltern über die Entwicklung ihrer Kinder, alte Kinderzeichnungen, Schulzeugnisse, Tagebücher und andere Erinnerungsstücke aus einer Vergangenheit, die in vielen Gedächtniswinkeln dicke Staubschichten abgelagert hat. Den Staub aufwirbeln, die alten Stücke blankreiben, sie anschauen, Einfälle sammeln, Eindrücke mitteilen, Gefühle austauschen – all das dient der Wiederaneignung und Bewahrunggemeinsamer Geschichte. Die vereinte Suche löst auch alte Gegensätze auf und lässt die Einheit des geteilten Schicksals und die Dankbarkeit dafür zu einer befreienden Erfahrung werden.
Auch das Gespräch mit Dritten, mit den Eltern, mit weiteren Geschwistern, mit anderen Verwandten oder alten Freunden, kann dem erinnernden Dialog oft neue Impulse geben. Sie alle sind Zeugen der Zeit, die man gemeinsam durchmessen hat.
Die »Erinnerungsarbeit« erfüllt schließlich, wie an früherer Stelle beschrieben, die Funktion einer Bilanzierung. Im Gespräch lassen sich die Bilanzen austauschen und diskutieren, die jeder von seinem eigenen Leben und dem des Geschwisters
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