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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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Hausbesuch in deutschen Haushalten. Alleinstehende Alte, immer mehr Singles im mittleren Alter, alte Ehepaare, um die sich keiner mehr kümmert, alleinerziehende Mütter mit einem, wenn es hoch kommt, mit zwei Kindern. Wenn man den Fernseher als Dauerunterhalter ausschalten lässt, um den Kranken untersuchen zu können, herrscht in der Wohnung meist eine bedrückende Stille. Das Jammern der Patienten, die Trauer um ihre Augen und ihr langer Händedruck sagen häufig mehr über ihre eigentliche Krankheit als die Symptome, über die sie offiziell klagen. Es ist die verbreitetste Krankheit der modernen Zivilisation – die Einsamkeit. Und sie lässt sich durch keine Tabletten heilen; sie lässt sich nur zeitweilig durch verschiedene Drogen betäuben.
    Diese Beschreibung ist nicht repräsentativ. Aber sie weist auf die unstrittige Tatsache hin: Die Anzahl der Kinder sinkt, Geschwister sterben aus. Die drei Generationen übergreifende Clanfamilie wie in den kinderreichen Ländern oder in den türkischenFamilien hierzulande gehört für den durchschnittlichen Mitteleuropäer der grauen Vorzeit an. Das bedeutet nicht, dass die Auflösung der Großfamilie als alleinige oder auch nur entscheidende Ursache für die moderne Zivilisationskrankheit der Einsamkeit verantwortlich ist. Aber die Umstrukturierung der Familie steht in engem Zusammenhang mit anderen Umwälzungen der Gesellschaft, die mit Beginn der Industrialisierung eingesetzt haben. Die technologische Entwicklung mit ihrer atemlosen Beschleunigung und der ihr zu verdankende historisch einzigartige Wohlstand in den hoch entwickelten Industrieländern sind nicht ohne tief greifende Folgen für die seelische Entwicklung des Individuums, für die Familie und für das Zusammenleben in der sozialen Gemeinschaft geblieben. Diese Tatsachen sind allgemein bekannt und finden sich in der sozialpsychologischen Literatur unter einer Vielzahl von Begriffen wieder: Entfremdung, Vereinzelung, Kommunikationsverlust, Beziehungsstörung, Als-ob-Persönlichkeit, Narzissmus, Gefühlsmechanisierung, Dehumanisierung, der automatisierte Mensch, der Mensch als Roboter, Verlust von Loyalität und sozialer Verantwortung und viele Begriffe mehr. Einsamkeit als deren Folge und als kollektive Krankheit ist das Symptom einer Entwurzelung, bei der elementare Grundbedürfnisse zerstört worden sind: Geborgenheit, Vertrauen, Verlässlichkeit, Zugehörigkeit, Hoffnung, Verständnis, Wärme und – Liebe.
    Deswegen sind Anja und Steppke geflohen. Die Zeit für Heroen scheint vorbei zu sein. Die Macht der Verhältnisse ist zu undurchdringlich geworden. Vor nicht allzu langer Zeit gab es ein anderes Geschwisterpaar, das noch glaubte, sich durch das Eintreten für Humanität und Menschenrecht und durch gemeinsames Handeln dem Wahnsinn der Zeit entgegenstellen zu können – Hans und Sophie Scholl. Hans Scholl, geboren am 22.   September 1918, trat mit 17   Jahren der vom Hitlerfaschismusverbotenen Bündischen Jungenschaft bei und gründete während seines Medizinstudiums in München die bekannte studentische Widerstandsgruppe »Die Weiße Rose«. Seine drei Jahre jüngere Schwester Sophie folgte zum Studium ihrem Bruder Ende 1942 nach München. Sie wusste nicht, dass Hans der Initiator der Flugblätter war, die seit einiger Zeit kursierten, und dass er der Gestapo bereits als Verdächtiger galt.
    Das änderte sich im Laufe der nächsten Wochen. Als Sophie klar wurde, dass ihr Bruder schon länger im aktiven Widerstand arbeitete, stand für sie ihre Beteiligung fest. Jetzt vervielfältigte und verteilte sie selbst die Flugblätter, die zum Widerstand aufriefen. Bei einer gemeinsamen Aktion in der Universität wurden die beiden verhaftet und nach vier Tagen Haft, am 22.   Februar 1943 hingerichtet.
    Geschwister im politischen Widerstand. Es war nicht die bedingungslose Liebe zu ihrem Bruder allein – es war die gemeinsame Liebe zum Leben, die sie verband, und der gemeinsame Mut und die Empörung, sich gegen Unrecht, Gewalt und Fremdenhass zu wehren. 50
    Auch wenn dieses Beispiel eines Geschwisterpaares historisch etwas zurückgreift, so bleibt es doch ein zeitloses Zeugnis für eine Geschwisterliebe, die sich erst unter dem Druck gesellschaftlich zerstörerischer Prozesse ihrer selbst gewiss wird und daraus die Kraft zu gemeinsamem Handeln schöpft.
    An den aktuellen Bezug des Themas anknüpfend, ist es auffallend, wie häufig seit Längerem in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion der

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