Geschwister - Liebe und Rivalitaet
werden müssen. Wenn der Briefeschreiber dagegen wieder in die alte Falle läuft, den anderen nur anzuklagen und durch Vorwürfe zu »Einsicht« und »Umkehr« bewegen zu wollen, hat er verspielt. Solches Vorgehen erzeugt nur Schuldgefühle und eine entsprechende Abwehr und verhindert geradezu, dass der andere sich öffnen kann. Diese Regel gilt ebenso für alle anderen Versuche zu einer neuen Verständigung. Denn wie die Versöhnung mit sich selbst das Annehmen der eigenen negativen Anteile voraussetzt, kann die Versöhnung mit dem andern nur durch Einfühlungund Verständnis auch für dessen Schwierigkeiten, Eigenarten und dunkle Seiten gelingen.
Versöhnungsbriefe müssen jedoch nicht zu masochistischen Selbstanklagen werden. Im Gegenteil sollten sie beim Lesenden auch Freude, Überraschung, Hoffnung und Lust auf eine neue Begegnung auslösen. In Briefen hat man die unvergleichliche Chance, sich dem anderen auch in seiner vitalen Freude, Leidenschaft und Fantasie zu zeigen – frei von Scham, die einen bisher hinderte, zu sagen, wer man wirklich ist. Jetzt braucht auch der andere sich nicht mehr zu schämen. Für zerstrittene Geschwister kann ein solcher in aller Offenheit erfolgender Austausch über die eigenen Schattenseiten ebenso wie über die eigene Lebendigkeit zu einer gänzlich neuen Dimension der Beziehung werden.
Neben den Briefeschreibern gibt es die große Zahl der Telefonierer, die aus diesem Medium eine hohe Kunst entwickelt haben. Nach dem Motto »Ruf doch mal an« oder »Ein Anruf genügt« greifen sie eines Tages zum Hörer und schütten dem anderen endlich ihr Herz aus. Das kann genauso befreiend, genauso offen sein und eine neue Brücke bauen. Jeder kennt seinen Weg am besten.
Briefe und Telefonate sind die direktesten Wege zum Neubeginn. Plötzlich bei dem anderen ins Haus zu schneien ist dagegen ein Risiko. Aber auch das ist eine Frage des Temperaments und der Erfahrung mit den Gewohnheiten des anderen.
Viele Menschen glauben, im Konfliktfall nicht selbst aktiv sein zu können oder zu dürfen. Sie brauchen Vermittler, Eltern, Freunde oder unparteiische dritte Geschwister. Nach der Devise: »Übrigens glaube ich, dass deine Schwester doch ganz gerne wieder Kontakt mit dir hätte« versucht der Vermittler, so neutral er erscheinen mag, einen unter Druck zu setzen. Jetzt müsste man reagieren. Wenn man es nicht tut, gilt dies alsBeweis mangelnder Bereitschaft. Aber wie verbindlich meint es die Schwester? Warum meldet sie sich nicht selbst?
Man nennt einen solchen komplexen Mechanismus eine »Kommunikation über Dritte«. In der Regel scheitert sie, weil es sich dabei um eine unoffene und sogar verdeckt feindselige Kommunikation handelt. Die angebliche Angst vor dem direkten Kontakt ist oft nur vorgeschoben. Dem anderen wird eine Entscheidung aufgezwungen, die man selbst, meist aus Gründen starker Ambivalenz, nicht treffen will. Aber kein Dritter kann sich einmischen oder gar Verantwortung übernehmen für das, was zwei erwachsene Menschen miteinander wollen.
Nach langer Zeit treffen sich die Geschwister zum ersten Mal wieder. Ingrid und Elli trafen sich in einem Café. Sie brauchten einen neutralen Boden. Anderen ist das zu unpersönlich, sie laden sich zu Hause ein. Ingrid brachte ihrer Schwester ein Geschenk mit, ein kleines Aquarell einer Malerin, die sie beide sehr mochten, eine farbenprächtige südliche Landschaft, in der sie vor vielen Jahren mit ihren Familien gewesen waren. Ein Versöhnungsgeschenk voller Gemeinsamkeit. Das Gespräch war schwierig am Anfang. Es bestand mehr aus höflichen Fragen und Antworten zu den aktuellen Dingen des Alltags, besonders zur beruflichen Situation und zu den Kindern. Persönliche Mitteilungen wurden ausgespart. Jeder ließ dem anderen Zeit und ertrug die anfängliche Distanz. Ingrid strahlte in der Gruppe, als sie erzählte, wie Elli ganz plötzlich eine Hand auf ihre gelegt und sie auf die Wange geküsst hatte. So kann ein Anfang aussehen.
Wenn das Eis nach dem langen Schweigen gebrochen ist, sind die Geschwister wieder frei, ihre Vergangenheit zu verarbeiten und ihre Gegenwart und Zukunft neu zu gestalten. Der gemeinsame Austausch von Erinnerungen an die Kindheit ist weit mehr als eine nostalgische Reminiszenz an die Vergangenheit. In der »Erinnerungsarbeit«, wie es die Psychoanalysenennt, lassen sich die Spuren der eigenen Frühgeschichte zurückverfolgen. Dabei tauchen existenziell bedeutsame Fragen auf: Wer war ich damals? Wer bin ich
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