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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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Welt alles in allem zumeist immer noch relativ kontrolliert auf Bedrohungen reagieren. Das gilt selbst für die Gefahr terroristischer Anschläge. Ein Grund dafür ist sicher, dass der Glaube an die Möglichkeit, die sich weitenden Lücken im modernen Sicherheitsregime durch technisch-organisatorische Verbesserungen schließen zu können, immer noch verbreitet ist. Aber dieser Glaube steht auf einem bröckelnden Fundament. Es könnte durchaus sein, dass wir uns über kurz oder lang von ihm verabschieden müssen, wie wir uns schon von so vielen ehernen Glaubenssätzen des 19. und 20. Jahrhunderts verabschiedet haben. Bei der Atomenergie scheint es nun nach den Katastrophen von Windscale, Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima – jedenfalls in Deutschland  – so weit zu sein.
     
    Womöglich ist es viel entscheidender für die Fähigkeit, mit Risiken halbwegs rational umzugehen, dass die Menschen in aller Regel immer noch nicht dem von den Neoliberalen propagierten Menschenbild entsprechen. Wäre der Mensch tatsächlich jenes radikal vereinzelte, allein seinen egoistischen Trieben und Interessen ausgelieferte Individuum, das Thomas Hobbes zur Grundlage seiner politischen Philosophie machte und zu dem uns die marktradikale Gesellschaft heute abrichten möchte, wäre ein panischer Kampf aller gegen alle, wären plötzlich aufwallende Angstepidemien, wären moderne Hexenjagden und Versuche verzweifelter Abkapselung in Kleinstgemeinschaften wohl längst an der Tagesordnung. Aber die psychische Grundausstattung des Mängelwesens Mensch ist nicht so einseitig, wie oft angenommen wird. Neuere psychologische und hirnphysiologische Untersuchungen belegen, was uns auch die eigene Lebenserfahrung lehrt und was eine lange Reihe von Philosophen von Shaftesbury und
Hume bis Carus und Buber vielen ihrer Zeitgenossen entgegenhielten: dass es im Menschen neben den unleugbaren egoistischen auch gesellige, empathische Anlagen gibt.
     
    Der Mensch ist im Naturzustand keineswegs des Menschen Wolf, wie Thomas Hobbes unterstellte. Die meisten Menschen starten ins Leben mit der frühen beglückenden Erfahrung von Geborgenheit in der wärmenden Nähe der Mutter und bilden auf diese Weise eine Art Urvertrauen aus, das sich im späteren Leben im Regelfall bewährt. Sie machen die Erfahrung von Freundschaft und Liebe und begegnen Tausenden von Menschen, die in ihren Reaktionen berechenbar sind, die sich ihnen gegenüber freundlich, distanziert höflich oder zuvorkommend, jedenfalls nicht aggressiv verhalten. Hilfsbereitschaft und Anteilnahme am Schicksal anderer sind keineswegs so selten, wie oft behauptet wird. Der Psychologe Michael Tomasello, Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, hält altruistische Motive beim Menschen für ein geradezu universell verbreitetes Ergebnis der Evolution: »Das Hilfsmotiv ist sehr früh im Leben da, und es ist, davon bin ich überzeugt, die Grundeinstellung.« 10 Wenn wir uns nicht durch aufgebauschte Berichte in den Medien verrückt machen lassen, können wir wissen, dass der Mensch eher selten dem Menschen ein Wolf ist. Dieses Wissen kann helfen, auch in unübersichtlichen und gefahrvollen Situationen auf dem Teppich zu bleiben und ein gewisses Maß an Selbstkontrolle zu behalten. Wirklich gefährlich wird die Lage erst, wenn in einer Gesellschaft die Erfahrungsräume zerstört werden, in denen diese Lebenszuversicht wachsen kann und immer wieder bestätigt wird. Unter diesem Aspekt ist die statistisch belegte Zunahme von Single-Existenzen besonders problematisch.

     
    Eines der größten Probleme heute ist, dass in der Ökonomie und damit in einem der wichtigsten Teilbereiche gesellschaftlicher Tätigkeit ein Menschenbild und eine Handlungstheorie vorherrschen, die die komplexe Realität menschlicher Praxis verzerrt wiedergeben und die Werte- bzw. Tugendbasis gelingender Kommunikation und Interaktion nahezu vollständig ausblenden. Auf die Probleme, die sich daraus ergeben, hat der Philosoph Julian Nida-Rümelin in seinem Buch Die Optimierungsfalle hingewiesen: »Eine Rationalitätstheorie, die zum alleinigen Kriterium die auf den eigenen Vorteil gerichtete Folgenoptimierung des jeweiligen Handelns hat, ist in doppeltem Sinne unverantwortlich: Zum einen darf sich eine wissenschaftliche Theorie nicht derart weit von den empirischen Realitäten entfernen, um als seriös gelten zu können. Zum anderen aber wirkt diese Theorie, zumal wenn sie in einer so mächtigen

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