Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
damit auch den Rest der westlichen Welt? Werden wir bald alle zu Vasallen der neuen Wirtschaftsgroßmächte China und Indien? Sind die fetten Jahre endgültig vorbei? Und was kommt dann?
Das typisch bundesrepublikanische Prinzip Hoffnung Mir und erst recht meinen Kindern wird es in Zukunft besser gehen , das die Deutschen in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg verbissen und leistungsstolz an ihrem Wirtschaftswunder werkeln ließ, ist längst einer verbreiteten Zukunftsangst gewichen. Die große Mehrheit ist heute einigermaßen verlässlichen Umfragen zufolge der Meinung, dass es ihnen in Zukunft, besonders aber ihren Kindern und Enkeln, weniger gut gehen wird. Die Entwicklung der letzten zwanzig, dreißig Jahre scheint ihren Pessimismus zu bestätigen. Zwar glauben sie nach wie vor an so etwas wie Fortschritt, aber Fortschritt ist in
ihren Augen ein wertmäßig neutraler, autopoietischer Prozess wissenschaftlich-technisch-ökonomischer Entwicklung, der sie vor sich hertreibt und sie schließlich doch wie eine Lawine zu überrollen droht. Die meisten Menschen in Deutschland glauben nicht mehr daran, dass sie selbst oder die Politiker oder überirdische Mächte dem Fortschritt eine andere, segensreichere Richtung geben könnten. Vorherrschend ist heute ein merkwürdiger Fortschritts fatalismus , der sich auf die paradoxe Formel bringen ließe: Der Fortschritt geht weiter, da kann man nichts machen, ob er aber wirklich fortschrittlich ist, ist höchst fraglich.
Wir blicken in die Zukunft wie in eine Geschützmündung. Das Rühmkorf-Zitat ist auf uns gemünzt. Zwar wissen wir nicht, ob das Geschütz überhaupt geladen ist und wann und von wem das Kommando Feuer! gegeben wird. Aber wir sind uns zumeist ziemlich sicher, dass aus der Richtung, in die wir blicken, nicht viel Gutes kommen kann. Wir trainieren positives Denken , machen jeden Morgen Lachübungen vor dem Spiegel, um uns in eine optimistische Grundstimmung zu bringen. Wenn man uns nach unserem Befinden fragt, beteuern wir trotzig, dass es uns gut geht. Wir renommieren mit Erfolgen, von denen wir wissen, dass sie, wenn es darauf ankommt, nicht wirklich zählen. Wir geben uns cool und signalisieren unserer Umwelt, dass uns so leicht nichts aus der Fassung bringt. Und dennoch tickt in uns die Angst wie eine Zeitbombe. Nachts lässt sie uns nicht schlafen, sie legt sich wie Mehltau über unsere flotten Sprüche; wenn wir unbeobachtet sind, spiegelt sie sich in unseren Augen.
Angst , sagt ein Sprichwort, ist ein schlechter Ratgeber. Und in der Tat ist die Geschichte voller Beispiele dafür, dass in Zeiten grassierender Angst die Menschen oft in einen gefährlichen Zustand der Lähmung verfallen oder eruptiv und panikartig reagieren, nicht selten mit irrationalem und gewaltsamem
Fehlverhalten. Jean Delumeau hat in seiner umfassenden Studie Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts diesen Zusammenhang für die europäische Umbruchzeit von der Renaissance bis zur Französischen Revolution belegt. Ist es also ratsam, Augen und Ohren vor den auf uns einprasselnden negativen Botschaften und düsteren Warnungen zu verschließen und einfach drauflos zu leben? Wohl kaum. Denn wir wissen aus Erfahrung auch, dass blindes Vertrauen und leichtfertiges Missachten aller Warnungen nicht selten der direkte Weg ins Verderben ist. Die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima sind Belege dafür. Der sorgenvolle Blick in die Zukunft kann unsere Wahrnehmung schärfen, sodass wir Wege aus der Gefahr entdecken, die dem Sorglosen verborgen bleiben. Hans-guck-in-die-Luft ist ebenso wenig ein empfehlenswertes Erfolgsmodell wie die Kassandra .
Wenn Kierkegaard, Freud und Heidegger zwischen Angst und Furcht unterscheiden, haben sie – bei allen auch sie unterscheidenden Voraussetzungen und weitergehenden Implikationen – eine wichtige Differenz im Blick: Angst als das ungerichtete, d. h. nicht von einer konkreten Bedrohung ausgelöste Gefühl – bei Kierkegaard »ein Urphänomen«, bei Heidegger eine »Grundbefindlichkeit« des Daseins, bei Freud Folge des »Geburtstraumas« – und Furcht als gerichtetes, sich auf eine konkrete Gefahr beziehendes Gefühl des Bedrohtseins. Furcht ist akzidentiell , aktiviert die Intelligenz, indem sie die Suche nach Auswegen aus der bedrohlichen Situation nahelegt. Angst ist existenziell. Dem Philosophen mag sie Einblick in das Wesen des Menschen und in die Grundbedingungen der
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