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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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Existenz eröffnen, bei Kierkegaard ist sie sogar die Grundbedingung für den erlösenden »Sprung in den Glauben«, bei den meisten Menschen aber paralysiert sie eher den Verstand und macht sie anfällig für irrationale, auch selbstdestruktive Reaktionen. Ich befürchte etwas, aber: ich ängstige mich.

     
    Wir leben heute in einer Epoche, in der für immer mehr Menschen sich die vielen konkreten Anlässe zur Furcht zu einer diffusen Angst verdichten und die unterschwellige Bereitschaft, sich zu ängstigen, überall Gefahren und feindliche Mächte entdeckt. Für Deutschland ist die Zunahme der Angst an dem seit 1991 jährlich von der Versicherungsgruppe R+V veröffentlichten Angstindex abzulesen, und wir haben allen Grund anzunehmen, dass die Situation in den meisten westlichen Gesellschaften ähnlich ist. Angstwellen gab es auch früher schon. So etwa gegen Ende des »langen« 19. Jahrhunderts, in den Pestzeiten des 6. und des 15. Jahrhunderts und vor der ersten nachchristlichen Jahrtausendwende, auch wenn die auslösenden Ursachen heute sicher andere sind als damals. Aus der berechtigten Furcht, die eigenen Kinder könnten nicht die für ihr weiteres Leben benötigten Bildungsvoraussetzungen erwerben, wenn sie eine Schule besuchen, in der viele Kinder mit dem berühmt-berüchtigten Migrationshintergrund erst einmal mühsam Deutsch lernen müssen, entwickelt sich heute bei vielen eine allgemeine diffuse Angst vor Überfremdung, die jederzeit in Hass und Gewalt umschlagen kann. Der Islam bläht sich in den Köpfen vieler Menschen zu einer ebenso unheimlichen wie allgegenwärtigen Bedrohung auf. Die durchaus berechtigte Furcht vor der unkontrollierten Macht der global operierenden Finanzwirtschaft führt bei vielen Menschen zu Verschwörungsfantasien, die in jedem Politiker, die im Staat, in den europäischen Institutionen, dem Weltwährungsfonds, der Weltbank und der WTO nur noch Agenten eines einzigen Verderben bringenden Molochs zu erkennen vermögen. Die zahlreichen nicht zu leugnenden Vorboten einer irreversiblen Zerstörung der Biosphäre nähren bei nicht wenigen eine tief sitzende Angst vor dem großen endzeitlichen Strafgericht, das wir mit unserer Hybris, mit unserer Gier und unserem Allmachtswahn heraufbeschworen haben.

     
    Wo eine solche diffuse Angst sich wie eine Dunstglocke über die Gesellschaft legt, tendieren viele Menschen dazu, alle konkreten Gefährdungen in ein umfassendes Bedrohungspanorama einzuordnen und ihnen damit eine alle menschlichen Eingriffsmöglichkeiten übersteigende geradezu dämonische Bedeutung anzuheften. Dass ein solches Verhalten den Blick für die eigenen Handlungsmöglichkeiten trübt und Abwehrkräfte lähmt und auf diese Weise reale Bedrohungen eher noch verstärkt, liegt auf der Hand. Am Ende kann dies dazu führen, dass man resigniert und tatenlos sich einem vermeintlich unabwendbaren Schicksal ergibt oder in einem letzten verzweifelten Akt des Widerstands dem erstbesten politischen Scharlatan folgt, der einen Königsweg aus aller Unsicherheit und Angst, aus aller Lethargie und allem Lebensüberdruss weist.
     
    Es muss uns hellhörig machen, wenn seit Jahren immer wieder zu hören und zu lesen ist, dass überall in der westlichen Welt depressive Erkrankungen dramatisch zunehmen. In Deutschland sind nach neuesten Erhebungen bereits sechs Prozent der Bevölkerung im klinischen Sinne depressiv. Die Depression ist damit zu einer neuen Volkskrankheit geworden. Nun ist es sicher richtig, dass heute bei Patienten und Ärzten eine gewisse Neigung besteht, ganz normale Traurigkeit zur Depression zu erklären und damit zu pathologisieren, worauf vor allem Allan Horwitz und Jerome Wakefield in ihrem Buch The Loss of Sadness hingewiesen haben. Andererseits ist eine solche modische Empfänglichkeit für Worst-Case-Szenarien , die wir auch in anderen Zusammenhängen beobachten können, wohl selbst Ausdruck einer tieferen Verunsicherung unserer Gesellschaft, deren Ursachen es ebenso zu erforschen gälte wie die der ernst zu nehmenden depressiven Erkrankungen. In den meisten Fällen wird es jedenfalls wohl nicht damit getan sein, den Menschen zu sagen: Stellt euch nicht so an! Was ihr für eine Krankheit haltet, ist ganz normal.

     
    Über die Ursachen depressiver Erkrankungen besteht unter den Fachleuten nach wie vor keine Einigkeit. Einige Wissenschaftler sind der Meinung, Depressionen seien generell oder mehrheitlich genetisch bedingt. Andere sehen in der Depression vor allem

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