Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Disziplin wie der ökonomischen vertreten wird, auf die Praxis zurück und verändert diese.« 11 Nida-Rümelin zeigt überzeugend, was die Folge sein könnte: Je mehr Menschen in immer mehr Praxisfeldern einer Handlungstheorie folgen, die keine anderen Handlungsgründe als die Optimierung des Eigeninteresses gelten lässt, desto schneller erodiert die Vertrauensbasis der Gesellschaft und damit auch der gesellschaftliche Zusammenhalt. Was dies in der Praxis bedeutet, erleben wir heute angesichts der von marktradikalen Politikern betriebenen hemmungslosen Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Wenn aber Ärzte durch gesetzliche Vorgaben de facto angehalten werden, den ökonomischen Erfolg über das Patientenwohl zu stellen, wird auf Dauer das unerlässliche Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient irreparablen Schaden erleiden.
Unser Glück ist es, dass es immer noch viele Menschen gibt, die die Vernunft der vorherrschenden ökonomischen Rationalität
bezweifeln, ja, dass sogar viele von denen, die der heute dominierenden ökonomischen Rationalitätstheorie anhängen, in ihrer alltäglichen Praxis außerhalb der wirtschaftlichen Handlungszusammenhänge – teilweise sogar innerhalb derselben – sich stillschweigend und zumeist unbewusst gänzlich anders verhalten, als es ihre Lieblingstheorie ihnen nahelegt. Allerdings gibt es keine Garantie dafür, dass dies auf Dauer so bleibt. Wenn die Menschen sich tatsächlich mehrheitlich ausschließlich von eigennützigen Motiven leiten ließen, wären Kommunikation und Kooperation und damit ein zivilisiertes Zusammenleben der Menschen ebenso wenig möglich wie ein produktives Wirtschaften. Eine Gesellschaft, die so verfasst wäre, wie es die vorherrschende ökonomische Handlungstheorie und das dominierende Menschenbild des Homo oeconomicus nahelegen, wäre die Hölle auf Erden.
Jeremy Rifkin hat in seinem Buch Die empathische Zivilisation: Wege zu einem globalen Bewusstsein in beeindruckender Weise dargelegt, dass die Fähigkeit und die Neigung zur Empathie zu den natürlichen Anlagen des Menschen gehören. Was Shaftesbury, Hume, Rousseau, Adam Smith, Schopenhauer, Carl Gustav Carus, Martin Buber und viele andere der alltäglichen Erfahrung entnahmen und zur Grundlage ihres Denkens machten, die Tatsache nämlich, dass es im Menschen eine natürliche Anlage zur Mitmenschlichkeit gibt, wird heute durch die experimentelle Psychologie und durch die moderne Biowissenschaft bestätigt. Ob wir das in uns vorhandene empathische Potenzial nutzen, um mit den wachsenden Sicherheitsproblemen der modernen Gesellschaft vernünftig umzugehen, ob es uns gelingt, aufbauend auf der anderen, der gesellig-empathischen Seite der menschlichen Natur unser Zusammenleben auf dem Planeten Erde so zu reorganisieren, dass katastrophische Zuspitzungen vermieden werden können, kann niemand vorhersehen. Die Möglichkeit dazu haben wir. Allerdings nicht, wenn wir uns von Theorien verrückt
machen lassen, die meilenweit von der Realität menschlicher Praxis entfernt sind. Es bedarf dazu jedenfalls keines neuen Menschen , keiner jahrzehntelangen Umerziehung unter der strengen Anleitung angeblich weiser Führer, keiner religiösen Erweckung oder genetischen Umprogrammierung. Der alte Adam , d. h. die uns von der Evolution mitgegebene Grundausstattung, reicht dazu aus – und weil sie dazu ausreicht, liegt auch in dieser Hinsicht die Verantwortung für die Zukunft des Menschen und seiner Gesellschaft bei uns selbst.
2. Die Angst nimmt zu
Wer Abend für Abend die Fernsehnachrichten verfolgt, kann leicht den Eindruck gewinnen, dass die Welt kurz vor dem Untergang steht. Terroranschläge, bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen, Atomwaffen in den Händen unberechenbarer Regime, Klimawandel und andere Naturkatastrophen, Krankheiten wie AIDS, SARS, Vogel- und Schweinegrippe, das unvermutete Auftreten eines geheimnisvollen neuen EHEC-Erregers, Flugzeugabstürze, Kriminalität, Terror, Flüchtlingsströme, Hunger und Elend – in den Medien sind die apokalyptischen Reiter ständig unterwegs. Dazu kommen die diffusen Abstiegsängste wachsender Teile der sogenannten Mittelschicht, die in jedem Grummeln auf den Märkten, erst recht in der Finanzkrise und der gigantischen Staatsverschuldung Vorboten eines baldigen Zusammenbruchs sehen. Ist der Euro in Gefahr? Bricht Europa auseinander? Reißt die Schuldenkrise in den USA die Weltwirtschaft in den Abgrund oder umgekehrt die in Europa die USA und
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