Gesetze der Lust
kleines Dankgebet für seine Loyalität aus. Sie wusste, Michael sah Søren als seinen Lebensretter an. Sie hatte nie die ganze Geschichte erfahren, aber sie wusste, dass Søren damals seine Karriere riskiert hatte, als er Michael die Wahrheit über sich selber und seine Beziehung zu Nora erzählt hatte. Die Nacht, die sie und Michael vor über einem Jahr miteinander verbracht hatten, war Sørens Belohnung dafür, dass Michael es ein ganzes Jahr lang geschafft hatte, sich nicht selber zu verletzen. Obwohl er damals wie heute ein ungewöhnlich weiser Teenager war, hatte er in der Nacht mit gerade erst einmal fünfzehn Jahren seine Unschuld verloren. In Connecticut und New York war man jedoch erst mit sechzehn, nicht schon mit fünfzehn, sexuell mündig, was ihre gemeinsame Nacht zu einem Verbrechen machte. Sie hatte sein Alter damals nicht gewusst – aber Søren.
„Okay. Also Michael und ich dürfen, was dich betrifft, nicht lügen. Heißt dass, wir sollen ein Schweigegelübde ablegen?“
Søren lächelte. „Dass du ein Schweigegelübde ablegst, Eleanor, ist genauso unwahrscheinlich wie dass du dich dem Zölibatverschreibst. Nein, ich denke, es ist am besten, wenn ihr beide die Stadt verlasst, solange das hier andauert. Und zwar gemeinsam.“
Schweigen legte sich wie ein Tuch über den Raum.
„Kann ich bitte eine Minute mit dir alleine reden, Meister?“, bat Nora. Søren stieß einen tiefen Seufzer aus.
„Michael, würde es dir etwas ausmachen?“
Michael stand auf und verließ das Büro.
„Bist du verrückt geworden?“
„Meine Kleine, wem gehörst du?“
Nora sank auf ihren Stuhl zurück.
„Dir, Meister. Aber du willst wirklich …“
„Eleanor! Was würdest du tun, wenn ein Reporter dich fragt, ob wir ein Paar sind?“
„Ich würde ihm sagen, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern. Dann würde ich Kingsley bitten, einfach nur aus Spaß eine Woche lang seine Kreditkarten und Bankkonten einzufrieren.“
Søren hob eine Augenbraue.
„Okay, ich hab’s verstanden“, sagte sie.
„Ich möchte in der Lage sein, mich dieser Situation zu stellen, ohne dass ich mir Sorgen um dich machen muss. Doch der weitaus wichtigere Teil ist Michael. Er braucht dich.“
„Wofür braucht er mich?“
„Für das, worin du am besten bist“, sagte Søren einfach.
„Du erwartest, dass ich Michael ausbilde ?“ Nora war schockiert. „Ich war eine gut bezahlte Domina, erinnerst du dich? Die Ausbildung von Nachwuchs war nicht mein Gebiet. Sicher gibt es jemand anderen, der …“
„Es gibt niemanden sonst, dem ich vertraue. Und niemanden, dem Michael vertraut. Er fängt im Herbst mit dem College an. Dieser Sommer ist unsere letzte Chance, ihm zu helfen.“
Nora hörte einen seltsamen Unterton in Sørens Worten, und ein Schauer überlief sie. Sie hatte seit ihrer gemeinsamen Nacht kaum mit Michael gesprochen, aber der Junge lag ihr immer noch sehr am Herzen.
„Ihm helfen? Das letzte Mal, als ich ihm geholfen habe, hattest du Angst, er würde erneut versuchen, sich umzubringen. Was stimmt mit ihm nicht?“
„Ich fürchte, das kann ich dir nicht sagen.“
Seufzend erhob sich Nora und wanderte zu dem Buntglasfenster in Sørens Büro. Anders als die Buntglasfenster in der Kirche zeigte dieses keine Heiligen oder biblischen Szenen, sondern eine aufblühende blutrote Rose. Nora fuhr mit der Fingerspitze eine der kühlen metallenen Dornen nach.
„Wir sind erst seit einem Jahr wieder zusammen“, erinnerte sie ihn. Nur ungern ließ sie ihn für einen Tag allein, ganz zu schweigen von einem ganzen Sommer.
„Ich weiß, Eleanor.“ Søren trat hinter sie und schlang seine Arme um ihre Taille. „Aber du musst mir vertrauen, dass ich weiß, was ich tue. Ich brauche dich, um Michael zu helfen. Ich brauche dich, um mir zu helfen.“
Ich brauche dich … Die berüchtigte Untergrundgemeinde, zu der sie gehörten, sah Søren geschlossen als ihren allmächtigen Dom an. Søren hatte sich sogar den Spitznamen „Alpha- und OmegaMann“ verdient. Aber diese Worte – ich brauche dich – waren öfter über seine Lippen geschlüpft als die meisten, die ihn kannten, glauben würden. Während der fünf Jahre ihrer Trennung war Nora oft früh am Morgen von einem Anruf geweckt worden, um diese drei Worte von Søren zu hören. Obwohl sie ihn verlassen hatte, sagte sie ihm bei diesen seltenen Anrufen niemals Nein. Manchmal konnte selbst er seine dunkelsten Begierden nicht zügeln. Ich brauche dich jetzt , hatte er dann
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