Gesprengte Ketten
und mich vor Schmerzen gekrümmt." Sie blickte auf. "Was kann das nur sein, Doktor Marquard? Es muss für diese Schmerzen einen Grund geben."
"Ich könnte Sie noch einmal zu einem Internisten überweisen, Frau Wolf", sagte der Arzt. "Andererseits wird es genauso wenig bringen, wie die vorherigen Untersuchungen. In den letzten Jahren sind Sie dreimal sehr gründlich von Kopf bis Fuß untersucht wo rden." Er beugte sich ihr leicht zu. "Frau Wolf, Sie haben mir zwar versprochen, keinen Alkohol mehr zu trinken, ich bin mir nicht sicher, ob..."
Marianne Wolf schnappte nach Luft. "Mit anderen Worten, Sie halten mich für eine Trinkerin!" Sie griff nach ihrer Handtasche, die sie neben sich auf den Boden gestellt hatte. "So etwas muss ich mir wirklich nicht bieten lassen, Herr Doktor! Wenn ich ab und zu mal ein Gläschen trinke, so liegt das durchaus im Rahmen. Andere Leute trinken auch. Meine Beschwerden haben damit nichts zu tun."
Dr. Marquard seufzte in Gedanken auf. "Ich wollte Sie nicht kränken, Frau Wolf", antwortete er. "Sie wissen selbst, dass Sie an einem nervösen Magen leiden und Alkohol..."
"Ich bin eben ein sehr sensibler Mensch", fiel ihm Marianne Wolf erneut ins Wort. "Mir schlägt alles gleich auf den Magen. Und die Sorgen, die ich mir um diesen alten Herrn mache, sind meiner Gesundheit auch nicht gerade zuträglich."
"Sie müssen sehr vorsichtig mit dem sein, was Sie essen und trinken, Frau Wolf", versuchte Julian ihr zu erklären. Er wusste bereits im Voraus, dass es nichts bringen würde. Früher hatten die Wolfs ihre Abende in der Dorfkneipe von Ried verbracht, inzwischen tranken sie meistens daheim vor dem Fernsehapparat. Marianne Wolf behauptete zwar, niemals mehr als ein, oder zwei Bier am Tag zu trinken, doch das glaubte er ihr nicht.
"Ich werde in Zukunft noch mehr darauf achten, was ich in den Mund stecke", versprach die ältere Frau. "Und vielleicht sollte ich mich auch nicht so viel um andere kümmern. Dank erntet man sowieso nicht." Sie hob die Schultern. "Oft genug habe ich es mir vorgenommen, aber mein gutes Herz lässt nicht zu, dass ich am Elend der Welt vorbeigehe. Wenn ich mir so ansehe, was für schreckliche Dinge überall passieren, will ich wenigstens dazu beitragen, damit es besser wird."
Dr. Marquard unterdrückte ein Schmunzeln. Ausgerechnet Marianne Wolf! Sie ließ selten an einem anderen Menschen einen guten Faden. Es war nicht einmal Bosheit, sondern nur der Wunsch, sich selbst herauszustreichen. "Ich werde Ihnen ein paar Tropfen aufschreiben, die Sie während der nächsten zehn Tage regelmäßig nehmen sollten, Frau Wolf", sagte er. "Und denken Sie daran, Sie gehören nicht zu den Leuten, die alles essen und trinken können."
Marianne Wolf nahm zufrieden das Rezept entgegen und ve rabschiedete sich von ihm. Sie sah nicht, wie der Arzt erleichtert aufatmete, als sie das Zimmer verließ und sich die Tür hinter ihr schloss.
Julian stand auf und trat an das große Fenster, das auf den Schlosspark hinausging. Schon als kleiner Junge hatte er sich g ewünscht, eines Tages Arzt zu werden. Man hatte ihm keine größere Freude machen können, als ihm zu Geburtstagen und zu Weihnachten Arztutensilien zu schenken. Wen hatte er nicht alles verarztet! Angefangen bei seinen Plüschtieren über seine Eltern bis zu seinen Spielkameraden. Allerdings hatte ihn niemand vor Patienten wie Marianne Wolf gewarnt, die nicht einsehen wollten, wie sehr sie mit ihrem Verhalten ihrer Gesundheit schadeten.
Nach kurzem Anklopfen trat Celine Barth, eine seiner Sprec hstundenhilfen, mit einer Tasse Cappuccino in das Zimmer. "Sie sehen ganz erledigt aus, Doktor Marquard", meinte sie scherzend. "War es so schlimm?"
"Noch schlimmer", erklärte der Arzt lachend. Durch die offene Tür hörte er, wie Marianne Wolf im Gang mit einem der anderen Patienten sprach. Sie erzählte ihm, dass sie kaum noch Zeit für ihren eigenen Haushalt hatte, weil sie sich so viel um andere kümmerte.
"Trinken Sie erst einmal in aller Ruhe Ihren Kaffee", schlug die Sprechstundenhilfe vor. "Frau Ravens kann noch ein paar Minuten warten."
"Eine neue Patientin?"
Celine nickte. Mit einer anmutigen Bewegung strich sie ihre kurzen, blonden Haare zurück. "Frau Ravens macht einen sehr bedrückten Eindruck. Ich kenne sie seit Jahren. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, haben uns danach jedoch aus den Augen verloren. Was ich so gehört habe, führt sie neben der Arbeit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester den Haushalt. Sie
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