Gesprengte Ketten
unterstützt wurde. Die Eltern waren der Meinung, dass Charlotte mehr als genug mit dem Gymnasium, das sie besuchte, zu tun hatte.
Charlotte kam in Jeans und BH in die Küche hinunter. "Wo ist mein blaues T-Shirt?", fragte sie. "Ich kann es nirgends fi nden."
"Es wird in der Wäsche sein", antwortete Laura. "Ich bin diese Woche noch nicht zum Waschen gekommen."
"Und was soll ich anziehen?", fragte das junge Mädchen empört.
"Ein anderes T-Shirt, du hast genügend im Schrank. Und wenn dir dieses T-Shirt so wichtig ist, kannst du es heute Nachmittag mit der Hand auswaschen." Laura griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Ihre Kopfschmerzen wurden fast u nerträglich.
"Dazu habe ich keine Zeit." Charlottes Blick fiel in die Schale mit den Frühstücksflocken. "Was ist denn das für ein Zeug?", fragte sie langgezogen.
"Ich habe gestern keine anderen Frühstücksflocken gekommen." Laura stellte die Eierbecher auf den Tisch.
"Das esse ich nicht!"
Die junge Frau seufzte auf. "Charlotte, bitte! Ich habe heftige Kopfschmerzen. Mach nicht so ein Theater. Du musst keine Frühstücksflocken essen."
Charlotte betrachtete ihre Schwester spöttisch. "Hör auf! Ke iner von uns glaubt dir deine ständigen Beschwerden."
Mit einer blitzschnellen Bewegung packte Laura ihre Schw ester bei der Schulter. "Achte auf das, was du sagst, Charlotte."
"Papa meint auch, dass du dich nur in irgend eine Krankheit flüchten willst."
Laura ließ ihre Schwester los. "Zieh dir endlich ein T-Shirt an." Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und nahm einen Schluck. Es hatte keinen Sinn, wütend auf Charlotte zu sein. Solange ihre Eltern auch der Meinung waren, dass sie sich mit ihren Beschwerden nur vor der Arbeit drücken wollte, würde sich Charlotte nicht ändern.
'Und warum lässt du dir das alles gefallen?', glaubte sie die Stimme ihres Freundes hören. 'Deine Familie behandelt dich wie eine Sklavin.'
Fortgehen! Endlich fortgehen und ihr eigenes Leben leben, wie lange träumte Laura schon davon? Als älteste Tochter hatte sie stets viel im Haushalt helfen müssen, aber in den letzten Jahren war es fast unerträglich geworden. Wenn sie meine Arbeit wenigstens anerkennen würden, dachte die junge Frau verbittert. Alles ist selbstverständlich. Was sie auch tat, in den Augen ihrer Eltern hatte sie es zu tun.
Nachdenklich schaute sie aus dem Fenster hinaus in den Ga rten. Sie beobachtete eine Amsel, die auf einem Ast im Kirschbaum saß. Als sich der Vogel in die Luft erhob, wünschte sie sich heftig, es ihm gleichtun zu können.
"Was starrst du so in die Luft, Laura?", fragte Günther Ravens hinter ihr. "Guten Morgen." Er trat an den Küchentisch und schenkte sich Kaffee ein.
Laura wandte sich ihrem Vater zu. "Guten Morgen, Papa", sagte sie müde. "Ich habe nur über etwas nachgedacht."
"Du musst mich nachher zu den Neuferts fahren. Ich habe Vo lker versprochen, ihm im Garten zu helfen."
Laura schüttelte den Kopf. "Tut mir leid, Papa, ich kann dich nicht fahren. Ich bin um zehn Uhr bei Doktor Marquard g estellt."
Ihr Vater verdrehte die Augen. "Ein neuer Arzt! Wie viel Ärzte willst du denn noch konsultieren? Es wird ohnehin jeder dasselbe sagen, nämlich, dass dir nichts fehlt." Er stellte die Tasse auf den Tisch. "Kein Wunder, dass die Krankheitskosten explodieren, wenn die Leute für nichts und wieder nichts die Wartezimmer füllen."
Laura war es leid, sich ständig wegen ihrer Beschwerden verteidigen zu müssen. "Dein Frühstück steht auf dem Tisch, Papa. Ist Mama wach?"
"Sie hat schon nach dir gefragt, Laura." Charlotte setzte sich in einem grünen T-Shirt an den Tisch.
Die junge Frau stieg die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Ihre Mutter litt an schwerer Arthrose und brauchte deshalb Hilfe beim Waschen und beim Anziehen. Laura hatte viele Stunden damit verbracht, alles über diese Krankheit zu lesen, was sie in die Hände bekam, weil sie ihrer Mutter helfen wollte. Dank hatte sie keinen dafür erhalten. Ihre Mutter dachte auch nicht daran, vernünftiger zu essen und sich regelmäßig zu bewegen, dabei hätte sie damit ihre Beschwerden wenigstens lindern können. In den letzten Monaten hatte sie keinen Arzt mehr aufgesucht, stattdessen nahm sie frei verkäufliche Schmerztabletten ein. Nach Lauras Einschätzung schluckte ihre Mutter davon mehr als ihr gut tat.
Gertrud Ravens saß auf dem Bettrand. "Wo bleibst du denn, Laura?", fragte sie ungeduldig. "Ich habe heute solche Schmerzen, dass ich die Wände hochgehen
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