Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
war mir noch lange unheimlich. An ihren Mann, den Reutiner Opa, kann ich mich nur schwach erinnern. Er hatte einen Spitzbart und einen hochgezwirbelten Schnurrbart. Im Ersten Weltkrieg war er bei der Kavallerie und hat oft von irgendwelchen Schlachten erzählt, von einer »Hölle von Ferduhn« zum Beispiel. Erst viel später habe ich gemerkt, dass es sich dabei um Verdun gehandelt haben muss, wo 1916 in einer monatelangen, besonders sinnlosen Materialschlacht etwa dreihunderttausend Soldaten gefallen sind. Von seinem Schwiegervater, dem Uhrmacher, hatte er zur Hochzeit eine goldene Taschenuhr mit Sprungdeckel geschenkt bekommen. Die hat mein Vater später geerbt, und statt sie mir weiterzuvererben, haben meine Eltern sie bei der Reutiner Sparkasse verscherbelt und mit den zwanzig Mark, die sie dafür bekommen haben, ein Fahrrad für mich gekauft. Ich wollte die Uhr viele Jahre später zurückkaufen, aber der Mann am Schalter hat behauptet, er hätte nie so ein Geschäft gemacht. Wahrscheinlich nie mehr so ein gutes.
Eine Geschichte vom Reutiner Opa fand ich als Kind so lustig, dass mein Vater sie immer wieder erzählen musste. Auf dem Küchenofen stand offenbar immer eine Blechkanne mit Malzkaffee, aus der sich der Opa tagsüber bediente. Einmal habe er nach einem kräftigen Schluck das Gesicht verzogen und beklagt, dass der Kaffee »heut aber hantig« schmecke. Er hatte das Spülwasser getrunken, das die Oma zur Reinigung in der Kanne gelassen hatte. Auf diese Weise ist mir das schöne süddeutsche Wort »hantig«, das inzwischen in Vergessenheit geraten ist, im Gedächtnis geblieben. Es bedeutet laut Wörterbuch »von stark bitterem, herbem Geschmack«.
»Die bessern Leit«
Die Söhne aus dem Mühlweg hatten alle eine vorbestimmte Biographie. Sie gingen »zum Dornier« in die Lehre und haben dann bei Dornier gearbeitet. Vierzig- oder fünfzigjährige Betriebszugehörigkeiten waren keine Seltenheit. Das wäre mit Sicherheit auch mein Weg gewesen, wenn, ja wenn da nicht der Lehrer Eschenlohr gewesen wäre. Er hatte unsere Klasse nach den ersten zwei Jahren vom Fräulein Klingler übernommen, war also für die Schuljahre drei und vier zuständig. Und die vierte Klasse war strategisch wichtig, da entschied sich nämlich, ob man die Volksschule zu Ende machte oder ins Gymnasium geschickt wurde. Gymnasium war für mich außerhalb jeder Vorstellung. Dorthin gingen die Kinder der »bessern Leit«, wie es damals ganz selbstverständlich hieß. Und die kamen aus Bad Schachen, dem Lindauer Villenvorort, vielleicht noch von der Insel oder aus Aeschach, aber bestimmt nicht aus Rickenbach. Für mich war klar, dass ich »zum Dornier« gehen würde, erst zu Herrn Maas in die Lehrwerkstatt, und dann würde man weitersehen.
Aber da war eben der Lehrer Eschenlohr. Er war bestimmt kein Pädagoge nach heutigem Geschmack. In seinem Pult lag ein Haselnussstock, der hatte oben ein kleines Astloch. »Mit dem sieht er alles«, verkündete Herr Eschenlohr gern und häufig. Und wenn er dann etwas gesehen hatte, setzte es Hiebe. Bei den Mädchen »Tatzen«, das waren Schläge auf die Hände, bei den Buben »Hosenspanner«, das Wort sagt alles. Vor allem den Fischer Anton, den Sohn einer Kriegerwitwe, hat er regelmäßig und ausgiebig verprügelt. Er wollte ihm vielleicht den Vater ersetzen. Dieser Lehrer Eschenlohr setzt sich nun auf sein Fahrrad und fährt die sechs Kilometer nach Rickenbach, um mit meinem Vater zu sprechen. »Schicken Sie den Bub aufs Gymnasium, es wär schad um ihn«, hat er ihm gesagt und meinen Vater einigermaßen verwirrt zurückgelassen. Daran hatte er nicht im Traum gedacht. »Ja, willst du denn da hin?«, hat er mich gefragt. Man kann die Situation nur einschätzen, wenn man sich, von den sozialen Barrieren einmal abgesehen, den kulturellen Hintergrund dieser Arbeiterfamilien vergegenwärtigt. Außer der Bibel und einem Wilhelm-Busch-Album gab es bei uns zu Hause noch zwei Bücher: »Im Land der schwarzen Zelte«, das war ein Bildband über das Leben der Beduinen, wer weiß, wie er in unseren Haushalt kam, und ein Medizin-Lexikon mit aufklappbaren Körpern von Mann und Frau, bei dem mich vor allem das Innenleben der Frau außerordentlich interessiert hat. Das war alles. Viele Jahre später hat mir Gottfried Benn ein Déjà-vu-Erlebnis beschert, als ich sein Gedicht »Teils-Teils« gelesen habe: »In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs / wurde auch kein Chopin gespielt /ganz amusisches Gedankenleben / mein
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