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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Reiter
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die mir in Erinnerung geblieben ist: Einmal waren die Eltern wie üblich am Samstagvormittag in der Stadt beim Einkaufen. Als sie zurückkamen, haben sie, was sehr selten vorkam, aus irgendeinem Grund heftig gestritten. Meine Mutter war so wütend, dass sie aus dem Haus gerannt und in den Wald gelaufen ist. Mein Bruder und ich sagten nach einiger Zeit zu unserem Vater, komm, jetzt müssen wir die Mama suchen und zurückholen. Auf dem Tisch stand die frische Wurst und die Brezen, und der Vater sagte: »Ja, aber erscht mach mer Brotzeit.« Bilder einer Kindheit.
    Weihnachten kam immer die Bildstein Oma zu Besuch. Maria Bildstein, geborene Preisser, die Mutter meiner Mutter. Sie sah aus, wie Omas früher aussahen: gütig, behäbig, die grauen Haare zu einem Knoten gesteckt. Sie wohnte zur Untermiete in Aeschach, in der Anhegger Straße, bei Frau Fäßler, ein Zimmer, kein fließendes Wasser. Sie war die »Aeschacher Oma«. Am Sonntag nach der Kirche haben wir öfters bei ihr vorbeigeschaut. Es gab dann immer ein »Schokolädle«. Als mein Bruder Diphtherie hatte, habe ich ein paar Tage bei ihr gewohnt. Sie hat in ihrem Bett geschlafen, ich auf dem Sofa. Abends musste sie immer ihre offenen Füße wickeln. Wir haben sie sehr gemocht. Wenn sie uns zum Lachen bringen wollte, nahm sie ihre Zähne aus dem Mund und schnitt Grimassen. An Weihnachten hat sie bei uns übernachtet. Ich durfte dann neben ihr schlafen, und sie hat mir vor dem Einschlafen Geschichten erzählt. Es war ein bemerkenswertes Leben. Sie war ein lediges Kind und wurde als Magd auf einem Bauernhof im Allgäu abgegeben. Dort wurde sie, wie das üblich war, selbst geschwängert und bekam ihrerseits ein lediges Kind, meinen späteren Onkel Josef. Der hat mir einmal erzählt, wie er mit seinem Erzeuger –Vater kann man ja kaum sagen – bekannt gemacht wurde. Seine Mutter, meine Oma, nahm ihn, als er schon ein paar Jahre alt war, mit ins Wirtshaus. Sie stieß ihn in den verqualmten Raum hinein auf einen Tisch zu und sagte: »Da des do hinda isch dein Vader!« Später hat sie einen gewissen Benedikt Bildstein geheiratet, von dem meine Mutter, seine Tochter, immer sagte, er sei »Ökonomiebaumeister« gewesen. Ich glaube, er war Hilfsarbeiter im Straßenbau. Er ist früh gestorben, ich habe ihn nie kennengelernt. Die Bildstein Oma habe ich als eine liebenswürdige und lebenskluge Frau in Erinnerung. Manche ihre Sprüche gehen heute nicht mehr, andere benutzen wir immer noch gelegentlich: Entweder muschs Maul aufmache oder en Geldbeutel. – Alt und grau derfscht werde, aber net frech. – Wenn der Bettelmann aufs Ross kommt … – Fürs Ghabte gibt der Jud nix. – In zwanzg Johr isch alls in andre Händ.
    Offenbar war die Bildstein Oma sprachlich begabt. Einmal musste sie in der Schule einen Hausaufsatz vorlesen. Sie hatte aber die Hausaufgabe nicht gemacht. Also stand sie auf und trug aus dem Stand einen Aufsatz vor, den es gar nicht gab. Ich bin ihr Enkel. Noch etwas ist mir von ihr geblieben. Wenn ein Stück Seife weitgehend aufgebraucht war, hat sie es nicht entsorgt, sondern behutsam auf das neue Stück aufgedrückt und auf diese Weise restlos zu Ende verbraucht. Als ich sie deswegen auslachte, erklärte sie mir in vollem Ernst: »Das heißt ›Kampf dem Verderb‹. Das war unterm Hitler.« Der Name hat mir damals noch nichts gesagt. Es war sozusagen meine erste Begegnung mit dem Dritten Reich. Und sie hat Spuren hinterlassen: Ich kann bis heute ebenfalls keine Seifenreste entsorgen. Wenn die Stücke klein und unhandlich geworden sind, mache ich sie nass und klebe sie zu einem neuen Stück zusammen. Ich habe damit bei meiner Tochter und bei manchen anderen Besuchern meiner BadezimmerKopfschütteln und bedenkliche Blicke ausgelöst. Aber ich kann nichts dagegen tun. Als eine Freundin einmal ein solch zusammengeklebtes Stück in den Mülleimer geworfen hat, musste sie es wieder herausholen. In Gestalt der Aeschacher Oma hat Adolf Hitler eine lebenslange Marotte bei mir ausgelöst.
    Die andere Oma, die Mutter meines Vaters, war die »Reutiner Oma«. Die mochten wir nicht so gern. Sie hieß vorher Elise Auer und hielt sich für etwas Besseres, sah auch irgendwie edler aus. Vielleicht weil ihr Vater ein Wiener Uhrmachermeister war oder weil sie selbst beim Grafen Zeppelin (ja, der mit den Luftschiffen) Dienstmädchen war. Jedenfalls hatten wir nie ein herzliches Verhältnis zu ihr. Sie ist später bei uns im Mühlweg gestorben. Ihr Kranken- und Sterbezimmer

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