Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Ratschläge war ja im Kern nichts einzuwenden: »Fahr vorsichtig«, sagte er, »und lass dich ja nicht mit irgendwelchen Frauen ein.«
Ich habe bei der Arbeit an diesem Buch das schwarze Wachstuchheft wiedergefunden, in das ich mir damals vor dem Aufbruch Etappenziele, Straßenverläufe, Zeltplätze und Wechselkurse eingetragen hatte und das ich dann als Reisetagebuch benutzte. »Donnerstag, 19. Juli, Abfahrt in Lindau acht Uhr, Kilometerstand 50104. Innsbruck, 25 Schilling für Benzin. Brenner. Motorrad bockt. Zeltplatz Lienz«,ist am ersten Tag vermerkt. An diesen ersten Abend im Zelt kann ich mich auch heute, nach fünfzig Jahren, noch erinnern. Ich schlug die Straßenkarte auf und sah, wie nah ich noch an zu Hause und wie weit, weit, weit der Weg nach Istanbul war. Mir wurde ganz anders.
Ich will hier keinen Reisebericht vorlegen, aber ein kurzes Zitat aus dem Tagebuch kann den Charakter des Unternehmens vielleicht ein wenig deutlich machen: »Montag, 23. 7. Abfahrt 7 Uhr. Bin bis Peć gekommen. Straßen fürchterlich. Das erste Mal gestürzt. Fußraste ab. Muss den linken Fuß jetzt auf den Motorblock stellen. Gewitter, das Wasser auf dem Zeltplatz steht 10 cm hoch. Muss Freitag in Istanbul sein. Hoffentlich geht alles gut.«
Es ging gut, ich kam nach Istanbul und ließ das Motorrad dort bei Glaubensbrüdern meines Vaters stehen. Mit Rucksack und Schlafsack trampte ich dann die türkische Westküste entlang nach Süden. Die Türken waren damals unglaublich deutschfreundlich. Sie kannten uns noch nicht. »Alamanca Turkiş Arkadaş«, Deutsche und Türken sind Freunde, wurde mir immer wieder versichert. Ich wurde mitgenommen, eingeladen, herumgeführt und fühlte mich zeitweise wie in Tausendundeiner Nacht. Vor allem den Baustoffhändler Mehmet Eronat aus Izmir, der mit einem alten Kleintransporter unterwegs war und mich am Straßenrand aufgelesen hatte, werde ich nie vergessen. Er fuhr mich viele Kilometer über abgelegene unbefestigte Straßen nach Milet, brachte mich in einem Gasthof unter und versorgte mich mit Essen. Sein Sohn, erklärte er mir in kaum verständlichem Englisch, sei in Amerika, und er hoffe, dass dieser dort auch Leute finde, die gut zu ihm seien. Ich habe ihm später Postkarten aus Lindau geschickt. Wenn ich heute sehe, wie wir die Türken bei uns oft behandeln, schäme ich mich.
Von Troja über Ephesus, Milet und Pergamon bis hinunter nach Halikarnass, das heutige Bodrum, reiste ich so per Autostopp auf äußerst kassenschonende Weise. All die magischen Stätten, von denen man im humanistischen Gymnasium ja ständig gehört hatte, hier waren sie, und ich stand davor. Touristen gab es damals noch kaum, man war oft allein in den alten verfallenen Theatern und Tempelanlagen. Ich fotografierte, zeichnete, notierte und habe am Ende nicht nur einen Bericht abgeliefert, der die Auswahlkommission zufriedenstellte, sondern auch den ersten Zeitungsartikel meines Lebens verfasst. Eine ganze Seite in der Wochenendbeilage der »Schwäbischen Zeitung« mit eigenen Fotos! »Versunkene Küste. Eine Studienfahrt zu den alten Griechenstädten West-Kleinasiens. Reisebericht von Udo Reiter« stand darüber. Es war meine erste aktive Begegnung mit dem Journalismus. 168 DM habe ich dafür bekommen, die Quittung besitze ich noch. Die schriftstellerische Qualität? Na ja, urteilen Sie selbst:
»Es wird langsam Morgen. Schon jetzt, um drei Uhr, lässt die angenehme nächtliche Kühle nach, die Sterne sind verschwunden, man fühlt einen neuen Tag heraufziehen. Nur wenige Minuten wird es noch dauern, bis die Sonne hinter dem Küstengebirge auftaucht, dann wird Helios wieder neu seinen Wagen über die Küsten lenken, die vor dreitausend Jahren begannen Mittelpunkt der Welt, Geburtsstätte des Abendlandes zu werden … Immer neue Geheimnisse entdecken die Forscher in dem trockenen Boden Kleinasiens, und jede gefundene Säule, jede Vase, jedes Schmuckstück lässt uns einen Blick werfen auf den Glanz, der vor Jahrtausenden hier geblüht hat, auf den Glanz einer versunkenen Kultur.«
Helios und der blühende Glanz. Meine lyrischen Versuche aus jenen Jahren habe ich in einem Anfall von Selbsterkenntnis zum Glück vernichtet – wobei es mir um den Reim Huren auf Kanneluren noch immer ein wenig leid tut.
In den letzten Jahren am Gymnasium, ab 1960 etwa, wurden meine Noten ziemlich gut. Daran mag Jürgen Müller seinen Anteil gehabt haben. Nicht nur weil er mich abschreiben ließ, sondern auch weil er mir an langen
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