Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
bis dahin nicht einmal wusste, dass es sie gab. An einem Abend durfte ich sogar mit zu einem großen Empfang bei Baron Rothschild. Ich saß ganz weit unten an der langen Tafel. Zum Glück musste ich mich nicht unterhalten, und es gab auch keine Rote Beete. Staunend habe ich gesehen, wie locker da elegant gekleidete Menschen parlierten, flirteten und tanzten, mit welcher Selbstverständlichkeit sie zwischen verschiedenen Sprachen wechselten und die glanzvolle Szenerie beherrschten. A long, long way from Rickenbach … Aus meinem »Schüler« Marc Pereire ist übrigens etwas geworden. Er lebt heute in London und hat eine leitende Position bei der Privatbank Mirabaud & Cie, einem Schweizer Unternehmen mit über fünfhundert Mitarbeitern, das auf Anlageberatung und Vermögensverwaltung spezialisiert ist. Ich hoffe, mein Deutschunterricht kommt ihm bei seinen Kundengesprächen gelegentlich zugute.
An der Universität habe ich mich mit zwei Dingen beschäftigt, die mich heute noch interessieren: deutscher Literatur und mittelalterlicher Geschichte. Es waren eindrucksvolle und namhafte Professoren, die damals in München lehrten. Johannes Spörl, bei dem ich eine Arbeit über den »Realismus als Stilprinzip in der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung« verfassen musste. Die Rosenfeld-Brüder, zwei Junggesellen, die beide Altgermanistik lehrten, oder Hermann Kunisch, weißhaarig und kultiviert, dessen Vorlesungen vor allem von Studentinnen überlaufen waren. Wenn er mit eleganter Gestik Mörikes »Rohtraut, Schön-Rohtraut« rezitierte, schmolzen die ersten Reihen im Auditorium Maximum nur so dahin. Mich hat mehr beeindruckt, wie er einmal beiläufig einfließen ließ, dass er nach dem Krieg in Berlin bei Gottfried Benn zum Kaffee eingeladen war. Beim »ollen Benn«, wie er lässig sagte. Der Dialogwar aber offenbar sehr einseitig gewesen. Immer wenn er ihm eine tiefgründige germanistische Frage nach dem Wesen der Dichtung stellen wollte, habe Benn gesagt: »Herr Kunisch, noch etwas Schlagsahne?« Auch bei Benns Beerdigung im Sommer 1956 (»wenn alles hell ist und die Erde für Spaten leicht«) war Kunisch dabei. Ein Herr von der Künstlerversicherung habe dort aufgezählt, was die Versicherung alles für Benn getan habe. Am Grab habe der alte, schon etwas debile Germanistikprofessor Richard Alewyn gestanden, genickt und vernehmlich gemurmelt: »Ja, ja, und hat alles nichts genützt.«
Benn – »Gottfried der Große«, wie ihn die Tochter von Thea Sternheim nannte, obwohl (oder weil) sie zu seinen zahlreichen erotischen Opfern zählte – gehörte neben Rilke und Trakl zu meinen literarischen Hausgöttern. Ich kannte mich in seinen Texten immerhin so gut aus, dass ich Jahrzehnte später, als ich mich im Twittern versuchte, eine feste Rubrik mit dem Titel »Benn am Sonntag« fast ein Jahr lang durchhielt und damit einen bemerkenswerten Erfolg bei einigen tausend Followern erzielte. Die drei Bände des Benn’schen Briefwechsels mit Oelze gehören (kleiner Tipp!) nach wie vor zum Aufregendsten, was es von einem deutschen Dichter zu lesen gibt. Dass es im Benn’schen Œuvre auch Randgebiete gibt, wo seine Sprache, der »Regen aus Gold und Rosen« (Thea Sternheim), hart an Edelkitsch heranrückt, wurde mir in einem Hauptseminar bei Professor Motekat klar. Es gab dort einen Herrn Schmidt, hochbegabt, aber ein extremer Stotterer. Immer, wenn er das Wort ergriff, hielt das ganze Seminar den Atem an. Dieser Herr Schmidt wollte auf die Kitschnähe einiger Benn-Verse hinweisen und zitierte zu diesem Zweck eine Zeile aus »Welle der Nacht«. Seine Sprachbehinderung gab der Kritik eine besondere Schärfe: »D-d-die w-w-weiße W-W-Welle rollt z-z-zurück ins Meer«. Pause. »Nnn-a ja.«
Mein bayerisches Stipendium hatte (Liberalitas Bavariae!) zwei Semester im »nicht-bayerischen Ausland« vorgesehen. Ich habe diese beiden Semester 1964/65 an der Freien Universität Berlin verbracht und dabei mehr Berlin studiert als Germanistik. Kultur, Ausflüge in West und Ost, Freunde, Mädchen. Es war ein wunderbares Jahr. Seitdem ist Berlin meine Lieblingsstadt in Deutschland. Gewohnt habe ich in der Koburger Straße 56/II bei Bruhnke. Die Bruhnkes waren ein altes kinderloses Ehepaar, das zur Neuapostolischen Kirche gehörte. Vor allem sie, die Anni, war sehr fromm. Ich habe das unfreiwillig mitbekommen, weil zwischen meiner Kammer und dem Bruhnke’schen Wohnzimmer eine schalldurchlässige Verbindungstür war. Abends, nach dem Essen,
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