Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
gelassen: die feinen Leute, und dazu gehörten die Weyermann-Töchter, aßen ein Hähnchen nicht etwa mit der Hand, sondern mit Messer und Gabel. Das war generell nicht meine Stärke. Bei mir zu Hause war das nicht üblich gewesen – und jetzt gleich ein Hähnchen! Wo musste man da denn ansetzen? Ich ließ mir meine Besorgnis nicht anmerken und plauderte möglichst fröhlich mit meinen Begleiterinnen, während ich versuchte, irgendwie ein paar Fleischteile von den Gockelknochen abzubekommen. Das muss ich ziemlich ungeschickt gemacht haben, denn plötzlich war das Tier verschwunden. Es lag auf meinem Schoß. Ich spüreheute noch, wie mich die Schamesröte überströmte. Da hatte ich einmal den Mann von Welt geben wollen und stand als Provinztölpel da, der nicht einmal anständig mit Messer und Gabel essen konnte. Das kommt davon, wenn man die Klassenschranken überspringen will, dachte ich mir. Arbeiterkind bleibt Arbeiterkind.
Eine ähnliche Erfahrung hatte ich schon ein paar Monate früher gemacht, und zwar in Paris bei meinem zweiten internationalen Auftritt nach der Türkeireise. Das kam so: Im Rahmen eines Schüleraustauschprogramms war ein französischer Schulbub namens Marc Pereire einige Wochen an unserem Gymnasium. Dieser Marc Pereire sollte nach dem Willen seiner Eltern Deutsch lernen, und zwar schnell und fließend. Daher fragten sie bei Oberstudienrat Lauter, der für den Schüleraustausch verantwortlich war, ob er nicht einen älteren Lindauer Schüler wüsste, der bereit und in der Lage wäre, für ein paar Wochen bei freier Kost und Logis und einem Taschengeld als Hauslehrer nach Paris zu kommen und dort ihren Sohn täglich zwei Stunden in Deutsch zu unterrichten. Ich hatte gerade das Abitur hinter mir, und Herr Lauter fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, die Zeit bis zum Beginn des Studiums auf diese Weise zu verbringen. Und ob ich Lust hatte. Dabei wusste ich noch gar nicht, was der Clou bei diesem Job war: Die Pereires waren ziemlich eng mit den Rothschilds verwandt, steinreich, feinste Pariser Gesellschaft, ein riesengroßes Stadthaus in der Nähe des Étoile, dazu ein Landhaus in Colombey-les-Deux Églises, neben dem ehemaligen Wohnsitz von General de Gaulle. Dort verbrachte man die Wochenenden. Mir wurde ganz anders. Zum Abendessen legte man nicht, wie bei uns zu Hause üblich, die Jacken ab und machte den Kragen auf, sondern kleidete sich um. Meist etwas Dunkles mit Krawatte. Das Essen servierte ein spanisches Hausmädchen mit Haube und weißem Schürzchen.Einmal, das werde ich nie vergessen, fiel mir vor lauter Aufregung ein Stück Rote Rübe auf das blütenweiße Damasttischtuch. Wie Blut auf Schnee. Ich wusste vor lauter Schreck und Scham nicht, ob ich die Hand darauflegen, den Teller darüberschieben oder, wie ich es zu Hause gemacht hätte, das Ding einfach mit den Fingern in den Mund stecken sollte. Aber feine Leute ignorieren so etwas, und die Pereires waren feine Leute. Man sprach beim Essen Englisch, damit ich mich auch an der Konversation beteiligen konnte. Viel geholfen hat das nicht, das bisschen Schulenglisch aus dem humanistischen Gymnasium war in der Praxis nicht viel wert. Das war mir besonders arg, als die Schauspielerin Geneviève Page, eine Freundin der Familie, einmal zu Besuch war. Sie war damals gerade für den »Golden Laurel« nominiert und spielte später unter anderem die Puffmutter in »Belle de jour«. Sie war sehr liebenswürdig und wollte mich in die Unterhaltung einbeziehen. Eine wunderschöne Frau, so berühmt und direkt neben mir auf dem Sofa! Immerhin war ich schon neunzehn. Ich bekam mit, dass sie gerade aus New York gekommen war, und brachte einen, wie ich fand, ziemlich weltläufigen Satz zustande. »How was the weather in New York?«, fragte ich sie. Ich glaube, es hatte geregnet.
Eine andere Entgleisung war schlimmer. Bei einem der mühsamen englischen Tischgespräche ging es um das Dritte Reich und den Nationalsozialismus. Ich war dem Thema nicht nur sprachlich nicht gewachsen und entblödete mich nicht, Hitlers Kriege mit denen Napoleons zu vergleichen. Die Pereires waren eine jüdische Familie. Ich habe heute noch größten Respekt vor der Souveränität, mit der sie über mein blödes Geschwätz hinweggingen. An diesem Beispiel ist mir später klar geworden, wie unverzeihlich es war, dass unser Geschichtsunterricht bei Bismarck aufgehört hatte. Trotz allem,ich habe damals Paris kennengelernt – und eine gesellschaftliche Welt gesehen, von der ich
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