Gewitter über Emilienlund: Mittsommerglück (German Edition)
nicht behagte.
Seufzend sank Annie in das feuchte Gras, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm einer Birke und ließ ihren Blick über den See schweifen, der sich glatt wie ein polierter Spiegel vor ihr erstreckte. Das Wasser war so kristallklar, dass man ungehindert bis zu seinem Grund sehen konnte. Erst jetzt fiel ihr auf, wie friedlich und wunderschön dieser Platz war, an dem sie sich befand.
Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie eine huschende Bewegung wahr. Rasch blickte sie zur Seite. Auf dem Ast einer Weide, der tief über dem Wasser hing, saß ein kleiner, leicht gedrungen wirkender Vogel.
“Ein Eisvogel”, murmelte Annie und hielt ehrfürchtig den Atem an. Ihr war klar, dass es sich um einen einmaligen Glücksfall handelte, diesen wunderschön gefärbten Vogel entdeckt zu haben, nicht nur, weil er vielerorts bereits vom Aussterben bedroht oder ganz verschwunden war. Trotz seiner auf den ersten Blick beinahe auffällig bunten Färbung passte er sich nämlich hervorragend an seine Umgebung an. Auf einem Baum sitzend war er, dank seiner orangebraunen Unterseite, beinahe unsichtbar. Dasselbe galt für seinen leuchtend türkisfarbenen Rücken, der mit der Wasseroberfläche verschmolz, wenn er über diese hinwegjagte.
In diesem Moment vernahm Annie einen lauten, durchdringenden Pfiff, und gleich darauf stürzte sich der Eisvogel von seinem Platz hinunter, durchstieß wie ein Pfeil die Wasseroberfläche. Wenige Sekunden später tauchte er, seine Beute sicher im Schnabel, wieder auf und flog davon.
Obwohl sie viele Jahre in Schweden gelebt hatte, war es doch das erste Mal, dass Annie einen Eisvogel in der freien Natur hatte beobachten können. Ein Erlebnis, das sie so schnell nicht vergessen würde – und das sie zudem davor bewahrt hatte, weiter in Selbstmitleid und Melancholie zu versinken.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und sie schüttelte den Kopf. Kaum zu glauben, doch sie fühlte sich mit einem Mal viel besser. Die Sorgen und Probleme, die ihr noch vor wenigen Augenblicken unlösbar und erdrückend erschienen waren, kamen ihr plötzlich klein und nichtig vor.
Von frischer Energie erfüllt, erhob sie sich von ihrem Platz unter der hohen Birke. Kurz schloss sie die Augen, nahm das Rauschen des Windes in den Baumkronen und das allgegenwärtige Zwitschern der Vögel in sich auf. Sie spürte die wärmenden Sonnenstrahlen auf der Haut und sog tief den würzigen, leicht erdigen Duft ihrer Umgebung ein.
Dies war das Paradies. So lange Zeit hatte sie sich danach gesehnt, eines Tages hierher zurückzukehren. Jetzt war es so weit. Sie war nach Hause gekommen.
Schon immer hatte sie Schweden als ihre wahre Heimat betrachtet. Hier war sie aufgewachsen, hier hatte sie die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht. Sie war vierzehn und todunglücklich gewesen, als sie gemeinsam mit ihrer Familie nach England zurückkehrte – oder besser gesagt mit dem, was von ihrer Familie noch übrig geblieben war. Heute wusste sie, dass ihre Mutter keine andere Wahl gehabt hatte. Damals jedoch …
Vielleicht hatte sie unbewusst auch deshalb so rasch zugesagt, als sich ihr nun die Möglichkeit geboten hatte, in das Land ihrer Jugend zurückzukehren. Es schien ihr geradezu bestechend logisch, dass sie an jenem Ort neu anfangen wollte, an dem sie schon einmal glücklich gewesen war.
War es wirklich erst knapp sechsunddreißig Stunden her, seit sie auf dem Flughafen von Stockholm angekommen war? Es schien eine kleine Ewigkeit her zu sein. So viel hatte sich seitdem verändert. Sie war so optimistisch, so voller Hoffnungen gewesen. Es durfte nicht sein, dass dieser dumme Unfall jetzt alles zunichte machte.
Wie lange hatte sie davon geträumt, endlich ein neues Leben anzufangen. Ein Leben, in dem sie selbst, ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche und Träume an erster Stelle standen und nicht ausschließlich das Wohl ihrer Familie. Nach der Schule hatte sie ihre Ausbildung in einer Londoner Firma begonnen, die auf die Herstellung von Automobilteilen spezialisiert war. Annie hatte sich sehr schnell hochgearbeitet, doch als der komplette Standort des Unternehmens ins Ausland verlegt wurde, war für sie kein Platz mehr gewesen. Trotzdem hatte sie den Kopf nicht in den Sand gesteckt, sondern die Zeit genutzt, um sich fortzubilden. Als man ihr schließlich den Job bei Montague O’Brannagh anbot, war ihr sofort klar gewesen, dass sie diese Chance ergreifen musste. O’Brannagh leitete ebenfalls eine Firma, die Automobilteile
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